Über den Sinn religiöser Bildung im christlichen Sinn, und nur davon kann hier die Rede sein, neu nachzudenken, ist angesichts zerronnener Selbstverständlichkeiten und neuer Herausforderungen notwendig. Religiöse Bildung will Christen befähigen, stets jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die sie erfüllt (1 Petr 3,15). In dieser Form religiöser Bildung verknüpfen sich Glaube und Vernunft in einer Weise, die die eigene Lebenshaltung mit vernünftiger Reflexion und Dialogfähigkeit zu einer unauflösbaren Einheit verwebt. Religiöse Bildung ist ein lebenslanger Prozess, weil sie die zu unterschiedlichen Zeiten aufbrechenden großen Fragen des Lebens und die nach dem dauernden Ärgernis des Todes stellen und klären will. Religiöse Bildung geschieht an unterschiedlichen Lernorten wie Familie, Kindergarten, Schule, Universität, Gemeinde, Akademien und nicht zuletzt im Selbststudium. Die religiöse Bildung, die in Zusammenarbeit mit dem Staat an Schulen und Universitäten stattfindet, hat ein eigenes Gepräge, denn sie thematisiert im Unterschied zur Katechese bewusst nicht die persönliche Glaubensentscheidung. Zwar wird dort über Voraussetzungen und Grundlagen einer Glaubensentscheidung reflektiert, aber im Kontext der Bildung eines weltanschaulich neutralen Staates ist alles zu vermeiden, was die Gewinnung eines selbständigen Urteils behindert.
Dennoch entsteht durch religiöse Bildung ein unverzichtbarer Beitrag für den Diskurs innerhalb einer aufgeklärten Gesellschaft und der Willensbildung innerhalb einer funktionierenden Demokratie. Das ist nicht im Sinn der Auflösung des Christentums in seiner Funktion für den zivilen Staat zu verstehen. Vielmehr geht es darum, nach außen den Bildungswert religiöser Bildung zu plausibilisieren. Im Folgenden sollen einige Denk- und Handlungsfelder skizziert werden, für die religiöse Bildung eigenständige Beiträge liefert:
„Eine christliche Haltung, die bloß im Inneren verbleibt und sich nicht (wenigstens versuchsweise) in der Tat realisiert, verfehlt ihr eigentliches Ziel, nämlich die Umgestaltung der Welt im Sinn der Botschaft des Evangeliums.“
1 Persönlicher Bereich:
Religiöse Bildung fördert die Auseinandersetzung mit der Sinnfrage, deren Ursprung die Erfahrung der eigenen Kontingenz ist. Aus der christlichen Überzeugung einer transzendenten Bejahung erwächst eine Form der Gewissheit über die Fundamente der eigenen Existenz, die das Leben nicht mehr als letzte Gelegenheit begreifen muss und in Folge davon in Selbsterhaltungspanik oder der Krankheit zum Tode verfällt, sondern im Modus der Hoffnung leben kann. Aus der bedingungslosen Seinsbestätigung leitet sich zweitens der Gedanke der unverlierbaren Menschenwürde ab. Kein Mensch kann beweisen, warum die Welt mit ihm besser ist. Dass es so ist, erfährt er auch durch religiöse Bildung. Sie schafft damit eine wesentliche Voraussetzung der Annahme seiner selbst und fördert die davon abhängige Identitätsbildung.
Religiöse Bildung fördert die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Sinnfrage im vernünftigen Dialog. Indem der Mensch im Dialog seine Position gewinnt und festigt, erlebt er hautnah, dass das Gewinnen einer eigenen Weltanschauung durch Begegnung und Kommunikation gelingt und nicht durch Abkehr und Trennung. Eine im Dialog entwickelte Positionalität ist sich der Perspektivität ihrer Sicht und des trotzdem bleibenden Verpflichtungscharakters bewusst. Sie ist so ein Bollwerk gegen Fanatismus und Radikalismus, weil sie weiß, dass die Begegnung mit dem Anderen, Neuen oder Fremden bereichernd und vertiefend und nicht bedrohlich oder verletzend ist.
2 Gesellschaftlicher Bereich:
Das Christentum besitzt begrifflich wie symbolisch ein umfängliches Repertoire, um gelingendes, scheiterndes und wenigstens partiell in Ordnung gebrachtes gesellschaftliches Leben zu beschreiben. Es bringt damit für eine Gesellschaft etwas zur Geltung, was den Absolutheitsansprüchen des Machbarkeits- und Optimierungsdenkens Einhalt gebietet. Religiöse Bildung schärft den Blick für die Wirklichkeit des Menschen und befähigt ihn, jenseits von Verdrängung oder Überforderung die Begrenztheit und Vorläufigkeit anzunehmen.
3 Sozialer und beruflicher Bereich:
Für die Ordnung und die Organisation des sozialen und beruflichen Bereichs bietet religiöse Bildung die beiden Leitbegriffe „Gerechtigkeit“ und „Barmherzigkeit“ als normierende Prinzipien an. Religiöse Bildung ermöglicht ein vertieftes, christlich fundiertes, Verständnis von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit und füllt sie mit Leben. Damit vermittelt religiöse Bildung auch eine Zielvorgabe für die Entwicklung des sozialen und beruflichen Bereichs, die einerseits ein Leitbild für die Gestaltung dieser Bereiche enthält und andererseits eine sachlich fundierte Kritik von Profitstreben und Konsumismus ermöglicht.
4 Politischer Bereich:
Ein demokratisches Gemeinwesen lebt von der aktiven Beteiligung der Bürger am Prozess der Meinungs- und Willensbildung. Religiöse Bildung bezweckt nicht nur die Entwicklung einer Haltung und Einstellung, sondern zielt auch auf deren Realisierung. Eine christliche Haltung, die bloß im Inneren verbleibt und sich nicht (wenigstens versuchsweise) in der Tat realisiert, verfehlt ihr eigentliches Ziel, nämlich die Umgestaltung der Welt im Sinn der Botschaft des Evangeliums. Durch religiöse Bildung wird auch die Partizipation am Gemeinwesen eingeübt. Das immunisiert Menschen.
5 Kultureller Bereich:
Zeitgenössische Kunst macht sich heute zwei Anliegen zu eigen, die sie in eine enge Beziehung zur religiösen Bildung bringt. Ein Kunstwerk schafft eine neue Welt, eine neue Wirklichkeit, indem es über das Sichtbare hinausgeht. Kunst schafft daher ein Bewusstsein dafür, dass es andere, unvordenkliche Dimensionen gibt. Ein Kunstwerk überwindet auch die Reduktion von Wirklichem auf das Nützliche. Es lehrt den Betrachter, dass das offensichtlich Unnütze aus sich selbst heraus wertvoll ist. Indem religiöse Bildung die eschatologische Dimension der Wirklichkeit erschließt, bricht sie die Verfangenheit in das Gegenwärtige auf und ermöglicht die hoffende Ausrichtung auf eine unvordenkliche Wirklichkeit. Das entbindet Kräfte der Wirklichkeitsgestaltung, die den Menschen über die Grenzen seiner bisherigen Welt hinausführt.
6 Geschichtlicher Bereich:
Religiöse Bildung ermöglicht ein vertieftes Verständnis geschichtlicher Zusammenhänge und damit der Herkunft des Einzelnen wie auch der Gesellschaft. Das Christentum prägt, formt und gestaltet seit vielen Jahrhunderten die lokale, regionale und globale Geschichte. Religiöse Bildung führt in die Ideen-, Sprach- und Bilderwelt des Christentums ein. Sie entschlüsselt damit die Gegenwart auch als Folge bewusster, zielgerichteter Gestaltung. Sie trägt einerseits zur Beheimatung des Menschen in seiner Welt bei und lässt ihn dadurch andererseits erkennen, dass seine Welt ein ihm offenstehender Gestaltungsraum ist.
Religiöse Bildung befähigt in unterschiedlichen Feldern Menschen, ihr Leben und ihre Welt sinnvoll und kriterienorientiert zu gestalten. Zwar sind je nach Lernort andere Schwerpunkte zu setzen. Aber die Praxis religiöser Bildung legt sich darauf fest, Dialog und Verstehen, Partizipation und Gestaltung sowie Kreativität und Transzendieren zu fördern. Daran wird sich ihr Sinn und ihre Relevanz bemessen lassen müssen.