Herausforderung und Chance für die kirchliche Erwachsenenbildung
Eine nach damaligen Maßstäben zu nackte Hildegard Knef sorgte 1951 auf der Kinoleinwand im Film „Die Sünderin“ für einen Skandal. Er steht symptomatisch für die Jahre zwischen 1945 und 1955, in denen sich ein tiefgreifender gesellschaftlicher Wandel vollzog, der auch bislang tradierte Moralvorstellungen berührte. In jenen Jahren malten daher etliche deutsche Bischöfe in düsteren Farben das Bild sittlichen Verfalls an die Wand. Auch der junge Würzburger Bischof Julius Döpfner reihte sich ein, obschon er in seiner kulturpessimistischen Silvesterpredigt 1949 durchaus Verständnis für das Bedürfnis der Menschen äußerte, nach den Kriegsstrapazen Zerstreuung zu suchen. Tendenziell prägte die Verkündigung dieser Zeit eine starke Skepsis gegenüber den gesellschaftlichen Veränderungsprozessen sowie eine unhinterfragt ausgeübte Deutungshoheit im Hinblick auf die moralischen Werte.
Der Umstand, dass die katholische Kirche insgesamt gestärkt aus der Zeit des Nationalsozialismus hervorgegangen war und in Westdeutschland erstmals seit mehr als 400 Jahren nach der Reformation die konfessionelle Mehrheit stellte, verstärkte dies. Im Rückblick erweist sich die Kirche angesichts des Bewegungsdrucks mehrheitlich unbeweglich in der von großer Dynamik geprägten Nachkriegszeit: Bevölkerungsverschiebungen, Wiederaufbau, Trauma- und Verlustbewältigung, Wirtschaftswunderjahre, Zunahme von Ehescheidungen und konfessionellen Mischehen, steigende Mobilität und gesellschaftliche Freizügigkeit sind Schlagworte der Epoche. Es war das Zweite Vatikanische Konzil, das der Kirche eine mehr dialogorientierte Öffnung zur jeweiligen Gegenwart hin zur Pflicht machte. Dabei sollten kirchliches Selbstverständnis und kirchliche Überzeugungen gewahrt bleiben, wurden aber in den sogenannten „Langen Sechziger Jahren“ gleich wieder herausgefordert. Der Konflikt um die Enzyklika Humane Vitae aus dem Jahr 1968 (sehr verkürzt auch Pillen-Enzyklika genannt) von Papst Paul VI. zeigt das beispielhaft.
Zweierlei wird deutlich: Glaube, Kirche und Werte hängen zusammen. Der Anspruch auf Wertorientierung gründet letztlich in den ethischen Forderungen, wie sie die Bibel bezeugt, und ist mit der kirchlichen Hirtengewalt verbunden; das Unfehlbarkeitsdogma von 1870 bezieht sich bekanntlich eben nicht nur auf Glaubens-, sondern auch auf Sittenfragen. Und: Kirche will in einer modernen, pluralen und säkularisierten Gesellschaft ihre Wertvorstellungen einbringen, trifft aber auf andere Überzeugungen, weshalb es Konflikte geben kann und kirchliche Positionen massiv angefragt werden; daher ist die Wertevermittlung eine besondere Aufgabe und Herausforderung, die ihre Motivation darin finden sollte, den Menschen den Weg zum Heil zu erschließen. Damit ist Kirche in der ihr eigenen Weise auch stets politisch. Sie ist aber auch mittlerweile in der Regel weit davon entfernt, wie in den 1950er Jahren nur moralische Defensivhaltung zu betreiben.
Schlüsselrolle der Erwachsenenbildung
Der kirchlichen Erwachsenenbildung kommt in der Wertevermittlung eine Schlüsselfunktion zu. Sind sich alle Verantwortlichen dessen bewusst? Trotz Strukturveränderungen in den Bistümern in organisatorischer wie territorialer Hinsicht erreicht die Erwachsenenbildung über die Pfarreien, die Bildungswerke und die diözesanen wie landesweiten Zusammenschlüsse und Fachstellen immer noch sehr viele Menschen. Durch innovative Projekte, neue und etablierte Methoden und Konzepte sowie die Themenwahl und -gestaltung bringt sie Menschen mit Kirche und Glaube in Berührung, die nicht selten bereits in ziemlicher Distanz stehen, aber „irgendwie“ die Kompetenz von Kirche in Bezug auf Lebensdeutung und -gestaltung „erinnern“ und nachfragen. Sie sehen offensichtlich in einer an Glaubensinhalte rückgebundenen Auseinandersetzung mit Wertvorstellungen immer noch eine Sinn-Ressource, die sittliche Urteile und Haltungen unterstützt oder sogar prägt. Dabei geht es nicht vorrangig um explizit religiöse oder speziell kirchlich beanspruchte Werte. Vielmehr geht es um das generelle Wertegefüge, das ein Zusammenleben in Frieden und Solidarität gewährleisten soll und in dessen Zentrum der Mensch steht. Außerdem geht es konkreter um Kriterien, die helfen, komplexe Entscheidungssituationen sachgemäß zu beurteilen und entsprechende Handlungsfolgen zu ziehen – denn es ist eine Binsenweisheit: die Welt ist nicht „schwarz-weiß“, sondern kompliziert und bunt. Einen theologischen Bezugspunkt für die Erwachsenenbildung stellt zum Beispiel das Dekret über die Erziehung des Zweiten Vatikanischen Konzils dar. Es skizziert immer noch gültige Grundlagen christlicher Bildung. Kerngedanke ist, dass der je konkrete Mensch der wird, der er vor Gott sein soll. Es geht – es klingt so simpel und ist im Alltag so schwer zu realisieren – um die Grundlage, dass das Leben der Menschen gelingt.
Kirchliche Erwachsenenbildung macht grundsätzlich wie kontextbezogen ernst damit, den Menschen als eigenverantwortlich handelndes Individuum dazu zu befähigen, situativ gut und richtig zu handeln. Sie gibt ihm das Rüstzeug an die Hand, sich zu sich selbst und vorgegebenen Wertmaßstäben mitunter auch kritisch zu verhalten. Eine besondere Aufgabe besteht darin, Handlungsfelder aufzuzeigen – theoretisch wie praktisch. Dabei stehen die sozialethischen Grundprinzipien oft im Mittelpunkt: Personalität, Subsidiarität und Solidarität, ergänzt um das mittlerweile weitgehend etablierte Prinzip der Nachhaltigkeit, besonders ausgeprägt hinsichtlich der Schöpfungsbewahrung. Die Praxisfelder lassen viele Ideen und Formate zu: informativ-kognitiv und klassisch vermittelt in Vorträgen, eher erlebnispädagogisch und viele Sinne ansprechend bei Exkursionen und Studienfahrten oder gleich in nutzenorientierten Projekten. Themen können kirchlich-päpstliche Verlautbarungen sein (jüngst Amoris laetitia oder Laudato si‘, Positionspapiere der Bischofskonferenz), sind durch das Tagesgeschehen vorgegeben (Flüchtlinge, politischer Radikalismus, Gerechtigkeitsdebatte) oder finden im Einsatz für Benachteiligte oder Umweltprojekte Anknüpfungspunkte. Ein großes Thema ist überdies die Entwicklung von Demokratiefähigkeit – ein Tätigkeitsfeld, dessen Reichweite hinein in die Eltern- und Schülerbildung mittlerweile vielerorts wahrgenommen wird. Die Katholische Erwachsenenbildung Sachsen-Anhalt hat sich hier ein auf Landesebene von der Politik wertgeschätztes Alleinstellungsmerkmal in der politischen Bildungsarbeit gegeben. Kirche und ihre Vermittlungsarbeit haben also etwas zu sagen und zu bewegen.
Mit Blick auf die Aktualität und Inhaltsrelevanz ist es Stärke der Erwachsenenbildung, durch die Orientierung an der kirchlichen Basis flexibel und nah an den Trends und Themen der Menschen zu sein. Und diese Themen werden zukünftig weiterhin besonders mit ethischen Fragen zusammenhängen, da sie zutiefst menschliche Fragen sind. Hier einen menschgewordenen Gott als Bezugspunkt zu glauben, ist substantiell, um auf Wandlungsprozesse mit der entsprechend legitimierten Autorität authentisch reagieren zu können. Daran wird auch deutlich: theologische und ethische Bildungsarbeit sind im Endeffekt zwei Seiten einer Medaille. Wertevermittlung kann hierbei Türöffner sein, tiefer in theologische Fragen einzusteigen.
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