Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: März-April 2024

Interview

Der Rollstuhl beschäftigt mich im Alltag gedanklich wenig

Foto: Felix Bernhard

Felix Bernhard hat als Pilger auf rund 20 Pilgerreisen etwa 15.000 Kilometer zurückgelegt. Er war unter anderem auf dem Bayerischen Jakobsweg, dem Caminho Frances und der Via de la Plata unterwegs und pilgerte 5.500 Kilometer von seinem Wohnort Frankfurt über Rom nach Jerusalem. Auf dem Caminho Português leitete er eine Gruppe von sechs Pilgern von Porto nach Santiago de Compostela. Mit Gemeinde creativ hat er über platte Reifen und die Kraft der Meditation gesprochen.

 

 

 

Gemeinde Creativ: Ein Motorradunfall hat Sie 1993 mitten aus Ihrem vorherigen Leben gerissen und in den Rollstuhl gesetzt. Haben Sie jemals über Selbstmord nachgedacht?

Felix Bernhard: Ich glaube, es ist eine natürliche Reaktion bei einem derart starken Einschnitt, dass sich ein „ich will so nicht mehr, dann lieber tot sein“ ins Bewusstsein drängt. Das Alte funktioniert nicht mehr, plötzlich rausgerissen aus der Komfortzone ist da nur noch Schmerz, Trauer, Verzweiflung und Wut. Nur ist das eben ein flüchtiger Gedanke und ich war damals sehr getragen von meiner Familie, Freunden und auch meinem Glauben an einen guten Gott. Heute weiß ich, dass gerade diese Erfahrung mich sehr hat wachsen lassen.

 Sie haben einmal gesagt: „Mein Vertrauen in Gottes Führung und Schutz ist blind, manchmal fast kindlich.“

Diesen kindlichen Glauben musste ich leider mit viel Schmerz begraben. Gott kann sicherlich gut begleiten, jedoch ist die Möglichkeit, mich vor Dingen zu bewahren, eingeschränkt. Das ist eine Folge des Erwachsenwerdens, Verantwortung zu übernehmen und nicht aus dem 50. Stock eines Hochhauses zu springen und zu sagen: „Bis hierher ist es noch ganz gut gegangen“, in der Hoffnung, dass Gott mich vorher auffängt und ich nicht aufschlage mit allen Konsequenzen.

Erinnern Sie sich an die ersten Strecken, die Sie mit dem Rollstuhl zurückgelegt haben und wie das für Sie war?

Das war mit Sicherheit irgendwo im Krankenhaus, vom Bett in den Flur, dann zur Cafeteria und danach wurde die Welt schon weiter, bis zum angrenzenden Kurpark. Da habe ich gern und regelmäßig die Flamingos besucht. Was ich vor 30 Jahren beim ersten Mal "anders gehen" gefühlt habe, weiß ich nicht mehr. Der Rollstuhl, so merkwürdig das klingen mag, beschäftigt mich im Alltag gedanklich eher wenig.

Anders gesagt: Als ich letzte Woche aufwachte, hatte ich einen Platten. War das schlimm? Habe ich mich schlecht gefühlt? Es war nicht der erste und bestimmt auch nicht der letzte, also habe ich mich drangemacht das Rad zu reparieren. Aber möglicherweise war das einer meiner schönsten Platten, einfach weil ich es mit Gleichmut hingenommen habe.

Auf deinen Pilgerreisen haben Sie mittlerweile an die 15.000 Kilometer zurückgelegt. Was hat Sie dazu gebracht, loszugehen und durchzuhalten?

Ich bin neugierig geworden, als ich erfahren habe, dass der Weg nach Santiago de Compostela direkt durch Frankfurt verläuft. Als ich dann im Jahr 2003 das erste Mal aufbrach, hatte ich noch viel von einer Pilgerromantik im Kopf, die es bereits damals schon nicht mehr gab, und das war lange bevor die ersten Smartphones anfingen (mit) zu pilgern. Durchhalten ist einfach die Wiederholung des Gestern: aufstehen, wenn auch mit Schmerzen, und weitermachen, die Freude kommt beim Tun und nach den ersten Schritten ist alles vergessen und die Freude über das Unterwegssein unfassbar groß. Die Weite, herrliche Landschaft, köstliche Luft und Unterwegssein mit leichtem Gepäck, nicht wissend, was mich um die nächste Ecke erwartet. Klingt das nicht nach Glück?

Wie geht Pilgern heute?

Es gibt ein Sprichwort: „Achte auf deine Gedanken, denn sie werden zu Gewohnheiten. Oft verwandeln sich Gewohnheiten in Charakterzüge.“ Aufs Pilgern übertragen bedeutet das, dass es am Anfang lediglich ein Gedanke war, loszugehen. Nach dem Aufbruch wird die Angelegenheit mit jedem zurückgelegten Kilometer zur Gewohnheit. Nach Tag drei oder Tag vier ist das morgendliche Starten kein unüberwindbares Hindernis mehr, egal was alles schmerzt. Am Ende des Weges kehren jede Pilgerin und jeder Pilger anders in die Heimat zurück als vor Beginn der Pilgerreise.

Genau diese Haltung habe ich mir angeeignet: Ich breche bewusst auf und verändere Dinge im Alltag, gehe neue unbekannte Wege oder nehme alte Wege mit veränderter Aufmerksamkeit. Welchen Unterschied das macht? Beziehungen zu führen, die wirklich erfüllend sind, anstatt sich im besten Fall einigermaßen gut in der Gegenwart der anderen Person zu fühlen; einen Job zu haben, der mich wirklich zufrieden macht und in dem ich mit talentierten und optimistischen Kollegen zusammenarbeiten kann und nicht der komische Vogel am Nachbarschreibtisch bin. Anders gefragt: Wie würdest du dich gerade in diesem Augenblick fühlen, wenn es kein Problem zu lösen gäbe?

 Hatten diese Reisen einen nachhaltigen Effekt auf Sie und Ihre Spiritualität?

Pilgern ist eine Art der Meditation, es lehrt jeden Menschen, der sich darauf einlässt, im Augenblick zu sein. Hitze, Kälte, Hunger, Durst beispielsweise sind sehr eindrücklich erfahrbar. Gemeinsam ist jede Pilgerin und jeder Pilger mit anderen unterwegs, das Ziel verbindet und immer gibt es einen Grund aufzubrechen und die Strapazen auf sich zu nehmen. Die Begegnungen und der Austausch sind pures Gold, denn viel von dem Small Talk findet gar nicht erst statt, sondern es geht um die elementaren Fragen, was es bedeutet, Mensch zu sein und Leid zu erfahren, genauso wie Glück zu erleben und zu teilen. Auch Gott spielt eine große Rolle: Den Rahmen der Reise bildet das Ziel, also das Grab des Apostels Jakobus und auch der Weg entlang wunderschöner Kathedralen, Kirchen und Klöster.

Was mich seitdem innerlich bewegt und was ich täglich mache, ist Meditieren – ungefähr 30 Minuten pro Tag. Das Pilgern war eine Vorbereitung dafür. Die Achtsamkeit und Präsenz haben mich auch ein besserer Coach werden lassen. Lange Zeit hatte ich mit dem Einzelcoaching aufgehört, um dann festzustellen, dass ich anders zuhöre, hinsehe, bemerke, was mein Gegenüber nicht erzählt. Es ist bereichernd und ein Geschenk, denn ich darf Dinge hören, die sonst niemand anders weiß. Zu bemerken, wie der andere Mensch sich verändert und ein glücklicheres Leben führt, dafür hat sich die innere Entdeckungsreise gelohnt. Wie Pilgern, nur ohne Jakobsweg, dennoch ebenso reich und erfüllend an Erkenntnissen.

Was fehlt Ihnen am meisten, seitdem Sie nicht mehr laufen können?

Nichts. Ich bin dankbar, denn das meiste habe ich geschenkt bekommen.

Das Interview führte Sarah Weiß.


Foto: Felix Bernhard

Felix Bernhard

geboren am 22. November 1973, ist Unternehmensberater, Speaker und Coach für Kommunikation und Resilienz. Seit einem schweren Motorradunfall nach dem Abitur sitzt er im Rollstuhl. Er studierte Volkswirtschaftslehre in Freiburg und Betriebwirtschaftslehre und Theaterregie in North Carolina. Seine Erfahrungen hat der Bestsellerautor in „Dem eigenen Leben auf der Spur. Als Pilger auf dem Jakobsweg“ und „Weglaufen ist nicht. Eine andere Perspektive aufs Leben“ veröffentlicht.


Verfasst von:

Hannes Bräutigam

Redaktionsleiter