Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: März-April 2024

Schwerpunkt

Der Menschensohn aber hat keinen Ort

Den Pilgerrucksack zu packen, bedeuten materielle Einschränkungen und Risiken einzugehen gegenüber dem, was kommt. Viel muss zuhause bleiben. Auch geistiger Ballast. Foto: JULIANLOGLE / Adobe stock

Vom physischen Wandern zur inneren Reise

Wie kann ich meine Pilgersehnsucht in eine gelungene Pilgerpraxis überführen, die mich auch im Nachhinein zufrieden sein lässt? Die auf mein ganzes „Lebensgehäuse“ nachhaltig heilsam ausstrahlt? Kurzum: Wie pilgere ich befreiend und fruchtbar?

Dem zeitgenössischen Pilgern wohnt ein Zauber inne. Es gilt als heilsam, ja geradezu als erlösend. Es fasziniert und verlockt Millionen von Menschen, sich auf unbekannte, oftmals sehr lange und unbequeme Wege zu begeben. Wie sehr Pilgern „in“ ist und weiter wächst, lässt sich daran ablesen, dass 1970 nur 68 Menschen die Pilgerurkunde für die Bewältigung der letzten 100 km des Jakobsweges nach Santiago de Compostela erhielten; im Heiligen Jahr Compostelas 2022 waren es bereits mehr als 437.000! Nicht mitgerechnet sind dabei die Hundertausende an Pilgernden auf anderen Strecken des weitläufigen Spinnennetzes europäischer Jakobuswege. Auch fehlen in dieser Zahl diejenigen, welche die zahlreichen anderen Pilgerwege begehen: die länderübergreifenden Wege, wie beispielsweise  Jerusalemweg, Via Francigena, Via Romea, Martinusweg oder Olavsweg oder landesinterne Pilgerwege, wie etwa Camino ignaciano, Franziskusweg, Ökumenischer Pilgerweg, Weg der Stille, Weg der Entschleunigung, Weg der starken Frauen oder die insgesamt 2.500 km langen Lutherwege.

Menschwerdung Jesu Christi als Pilgergeschehen

Doch wie geht das, geistlich zu pilgern? So zu pilgern, dass es Maß nimmt an Jesus? Sein öffentliches Leben war ja das eines Pilgers: „Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels Nester; der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann.“ (Lk 9,58) Die christliche Tradition deutet die Menschwerdung Jesu Christi insgesamt als Pilgergeschehen: In einer böhmischen Hirtenkantate von Johann Heinrich Schmelzer (ca. 1623-1680) heißt es, ins Deutsche übersetzt: „Obgleich du der göttliche Pilger bist, bist du wie ein Gefangener im Stall eingeschlossen.“

Kurz gesagt, meint „Pilgern“ ein Zueinander von physischer Reise („wandern“) und innerer Reise. Letztere besagt, dass Pilgernde inneren Prozessen auf die Spur kommen, die sich „entlang“ der äußeren Bewegung einstellen: Sie nehmen – mitunter überrascht – wahr und halten typischerweise in Tagebüchern fest, was sie in der Begegnung mit der Natur, mit Menschen auf dem Weg sowie an Leib und Seele sinnlich erfahren. Bei feinerem Hinspüren können sie in der Regel auch Resonanzen tieferer Art (etwa Dankbarkeit, Krise, Angst, Weite oder Gelassenheit) wahrnehmen und damit zusammenhängende, ausdrücklich geistliche Regungen ihrer Seele: „Trost“ oder „Misstrost“ nennt dies der Pilgermystiker Ignatius von Loyola.

Ein zweites Moment klang bereits mit an: Pilgern lebt, oftmals überraschend geschehend, von der „Öffnung bzw. dem Offenwerden für das Geheimnis“, von dem Geschenkhaften, das Pilgernden umsonst, gratis zukommt. Die tiefsten Erfahrungen kann man nicht machen; sie werden einem geschenkt. Dieser zarte, ja schützenswerte Geschenkcharakter hebt das Pilgern ab, sowohl vom sportlichen oder asketischen Leistenwollen als auch vom Missbrauch des Pilgerns durch ganz und gar kommerziell kalkulierende Tourismus- oder Spiritualitätsanbieter.

 

Vom geistlichen Nutzen, den Rucksack zu packen

Moment: Sie verlangen danach, Rücksicht zu nehmen auf die eigene Leistungsfähigkeit. Indem ich einen mir gemäßen Weg aussuche und das Gewicht meines Rucksacks auf das von mir leichtfüßig zu Tragende beschränke, erkenne ich meine Grenzen an: Ich bin endliches Geschöpf. Und indem ich meine geschöpflichen Grenzen anerkenne, erkenne ich den Schöpfer an, der mich so geschaffen hat, wie ich bin.

Einen Pilgerrucksack zu packen, bedeutet zudem, mich zu lösen von unzählig vielen, mir lieb gewordenen Dingen sesshaften Lebens. Diese materielle Einschränkung stellt ein Sinnbild für den ganzheitlichen spirituellen Loslösungsprozess während des Pilgerns dar: Welches seelische „Päckchen“ muss ich „ablegen“ oder aufarbeiten?

Wer den Rucksack packt, hantiert mit Risiken. Denn mit dem, was ich mitnehme, kann ich mich unmöglich gegen all das absichern, was mir unterwegs zustoßen könnte. Um zu pilgern, brauche ich das Vertrauen, dass mir das, was ich jeweils brauchen werde, dann auch zuteil werden wird: „Macht euch also keine Sorgen und fragt nicht: Was sollen wir essen? Was sollen wir trinken? Was sollen wir anziehen? (…) Euer himmlischer Vater weiß, dass ihr das alles braucht. Sucht aber zuerst sein Reich und seine Gerechtigkeit; dann wird euch alles andere dazugegeben. Sorgt euch also nicht um morgen“ (Mt 6, 31-34).

Beim Start kommt als weiteres Ritual der Pilgersegen hinzu. Diese alte Tradition, mit einem Segensgebet aus dem Jahr 1078, mag heute überholt vorkommen. Meine Erfahrung zeigt jedoch, dass Pilgertouren dann besonders erfüllend waren, wenn ihnen der Empfang eines Pilgersegens vorausgingen.

Vom GPS-Signal zur Gotteserfahrung

Das Pilgern bietet auf Schritt und Tritt Gelegenheiten, Gutes zu erfahren: den Boden, der trägt; den Weg, den Menschen vor uns ausgebaut haben; Markierungen oder GPS-Signale, die die Richtung weisen; die Schönheit der Mutter Erde in allen ihren abwechslungsreichen, oftmals so wunderbaren Erscheinungsformen; unseren Leib, der fähig ist, mit Rucksack trotz aller Anstrengungen weiterzugehen; unsere Fähigkeiten, wahrzunehmen, zu fühlen, zu planen und zu kommunizieren; Menschen am Weg, die uns gastfreundlich grüßen, Auskunft geben, versorgen und ihr Herz öffnen; die Empfindung, Altlasten ablegen zu können; wachsende Klarheit über die nächsten biographischen Schritte; neu zuströmende Lebensenergie und Zuversicht …

Um in diesem – gut ignatianischen – Sinn „Gott in allem zu suchen und zu finden“, braucht es allerdings die Abkehr von falschen Einstellungen: etwa vom Wunsch, angestrebte Etappenziele möglichst rasch zu erreichen; vom Grübeln über eigene Versäumnisse oder zugefügte Verletzungen; von perfektionistischen Ansprüchen an uns selbst, die Landschaft, Mitpilger oder Unterkünfte.   

Dem dreieinen Geheimnis auf der Spur

verschlossen und wie draußen, entfernt von seiner Gegenwart. Pilgernd üben wir, uns mit unserem Leib und allen unseren Sinnen, mit Herz, Seele und Geist auf diese göttliche Gegenwart einzulassen und sie in all dem, was uns begegnet, so gut wie möglich zu verkosten. Das vielfältige Zeugnis der Heiligen Schrift und vieler Pilgerinnen und Pilger in der Geschichte der Menschheit versichert uns: Gott will uns begegnen und umarmt uns bereits jetzt durch die Wirklichkeit! Dabei kann uns etwas vom dreieinen Geheimnis Gottes aufgehen. Pilgern und Trinitätsglaube können sich gegenseitig auslegen: Die Gemeinschaft mit dem einen Gott ist Ziel und uns bereits jetzt beheimatender „Bewegungsraum“ unseres Pilgerns. Denn in ihm leben wir und sind wir (vgl. Apg 17,28). Jesus Christus ist unser Wegbegleiter und die richtungweisende Zielgestalt unserer spirituellen Wandlung. Der Heilige Geist ist die schöpferische Energie, die, in allem wirkend, uns inspiriert, so dass wir uns gelassen zu größerer, bleibender Freude und Fruchtbarkeit hin verwandeln lassen. Auch die uns anstehenden Haltungen der Ergebenheit, Ehrfurcht und des geduldigen Durchhaltens verdanken wir dieser Geistkraft.

 

 

 

Der komplette Beitrag ist zunächst in vier Kolumnen erschienen in: Christ in der Gegenwart, 75 (2023), 33-36.

Literaturübersicht des Autors in Geist und Leben, Jg. 93 (2020), 416-424.

Br. Hainz SJ ist beim jährlichen großen Pilgertreffen in Donauwörth (13.-15.9.2024; 11.-14.9.2025 dann mit internationaler Pilgerkonferenz, von Br. Hainz mitorganisiert) zusammen mit vielen Pilgerinteressierten und -multiplikatoren persönlich anzutreffen.


Verfasst von:

Br. Michael Hainz SJ

Jesuitenbruder in Frankfurt/St. Georgen, Buchautor, zertifizierter Pilgerbegleiter