Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: März-April 2024

Kommentar

Spirituelle Offenheit und seelsorgende Interviews

Foto: Volker Wiciok

Als Religionssoziologe hat man meist mit absteigenden Kurven zu tun. Von sinkenden Kirchenmitgliedschaftszahlen und Gottesdienstbesuchsquoten aber möchte ich hier nicht berichten. Völlig anders nämlich stellt sich die Lage beim Pilgern dar. Insbesondere auf den Jakobswegen pilgern immer mehr Menschen aus immer mehr Nationen. Von dieser Popularität kann die Religionssoziologie einiges darüber lernen, unter welchen Bedingungen Religion auch in der säkularisierten Moderne erfolgreich sein kann. Über mehrere Jahre haben wir daher entlang der Jakobswege geforscht, vor allem, indem wir ausführliche biografische Interviews mit Pilgernden geführt haben.

Das war kein Forschungsprojekt wie jedes andere. Beeindruckt hat mich die immense Bereitwilligkeit, mit der sich Pilgernde auf unsere Interviews eingelassen haben. Normalerweise hat man als Sozialforscher so seine Mühe, Menschen für die Teilnahme an Studien zu gewinnen. Ganz anders auf den Jakobswegen: In erstaunlicher Offenheit und Ausführlichkeit haben uns Pilgernde von ihren Lebensgeschichten und Pilgererfahrungen erzählt. Das liegt sicher auch daran, dass sie abseits ihres Alltags schlicht Zeit für lange Gespräche hatten. Außerdem erzeugen Pilgerfahrten offenbar eine Atmosphäre, in der Menschen persönlichste Gedanken im intensiven Austausch miteinander teilen. Communitas hat der Ethnologe Victor Turner das genannt.

Gerade im Fall der Interviews, die wir in Santiago de Compostela geführt haben, kam noch etwas anderes hinzu: Die Interviewten waren regelrecht dankbar für die Gelegenheit, die tiefgreifenden und nicht selten lebensverändernden Erfahrungen ihrer Pilgerfahrt mit uns reflektieren zu können. Häufig hatte ich das Gefühl, die Interviews erfüllen hier eine seelsorgende Funktion. Dahinter steckt etwas, das ich spirituelle Offenheit nennen möchte. Wir wissen nämlich, dass nur jeder Fünfte aus religiösen Gründen pilgert. Auch viele der von uns Interviewten hatten den Kontakt zur Religion verloren, sich von der Kirche distanziert oder waren ausgetreten. Im Zuge der außeralltäglichen Askese und Muße ihrer Pilgerfahrt aber haben nicht wenige Religion neu erfahren.

Das zeigt sich daran, dass in unseren Interviews häufig von Wundern und Sendungen die Rede ist. Wohlgemerkt von Menschen, denen religiöse Deutungen ansonsten eher fernliegen. Ich denke beispielsweise an eine Frau, die vom Hunger überrascht wurde. Sie trifft auf eine Spanierin, die am Wegesrand Pfannkuchen verschenkt. „Das ist ein Wunder, ein Geschenk Gottes“, sagt sie im Interview. Ich denke an einen Abiturienten, der auf dem Jakobsweg darüber nachdenkt, welchen Berufsweg er einschlagen möchte. Er trifft eine US-amerikanische Lehrerin, die ihn zu einer Hospitation an ihrer Schule einlädt. Er sagt: „Ich glaube nicht mehr an Zufall. Irgendwas hat diese Begegnung gewollt herbeigeführt.“ Und ich denke an einen konfessionslosen Mann, der die spirituelle Atmosphäre von Kirchen für sich entdeckt hat: „Zuhause bin ich nie in der Kirche. Wenn ich zurückkomme, will ich das aber wieder machen.“

Wir haben die spirituelle Offenheit als Forscher erfahren. Auch Kirche kann Pilgernde dort abholen. Sei es durch Angebote in Santiago oder in der Heimat, in der viele Pilgernde sich nach ihrer Rückkehr spirituell verloren fühlen.


Verfasst von:

Patrick Heiser

Religionssoziologe an der FernUniversität in Hagen