Sie haben – persönlich oder als Gemeinde – die Nase gestrichen voll von leeren Kirchenbänken? Wir zeigen eine Alternative auf: Gospelmusik in ökumenischen Gottesdiensten! Kommen Sie nach Bobingen oder starten Sie selbst Ihr Gospel-Projekt.
Zu Beginn der Predigt am 15. Februar 2020 fragt der evangelische Pfarrer Peter Lukas seinen katholischen Kollegen Mariusz Pluta: „Warum musste ich in der Vorbereitung oft so lange auf deine Antworten warten? Tatest du dir etwa mit der Predigt schwer?“ Viele Anwesende lachen und hören die ehrliche Antwort: „Ja, ich fand es nicht einfach. Das Gospelprojekt hat mir mit dem Thema By Grace eine harte Nuss zu knacken gegeben. Wer benutzt denn heute noch – außerhalb der Kirchenmauern – das Wort Gnade?“ Gleich darauf googlen beide das Wort und unterhalten sich über die Treffer. So fröhlich diese Predigt beginnt, so offen und mitreißend ist das ganze ökumenische Gospelprojekt.
Innovativ ökumenisch
Auch das Leitungsteam denkt und lebt Ökumene. Sigrid Pröbstl ist Kirchenmusikerin, Klavierpädagogin und Organistin an der Evangelischen Dreifaltigkeitskirche Bobingen, leitet aber auch den Unterstufenchor am Gymnasium St. Stephan in Augsburg. Tobias Reinsch ist Jazzpianist, Komponist und Kirchenmusiker in den katholischen Pfarrgemeinden St. Stephan und St. Bernhard in Kissing. In nur sechs Wochen formen beide einen Chor, der für alle offen ist. Die Singenden sind sowohl evangelisch wie katholisch und kommen mehrheitlich aus Bobingen sowie Königsbrunn. Innovativ ist die Verbindung von Chor und Ortsgemeinden. Der Gospelprojektchor ist nicht ausschließlich in einer kirchlichen Gemeinde beheimatet, sondern steht im Wechselverhältnis zu vier, in denen auch die vier Gottesdienste stattfinden: die katholischen Kirchen „Zur Heiligen Familie“ in der Pfarreiengemeinschaft Bobingen, und „Zur Göttlichen Vorsehung“ in der Pfarreiengemeinschaft Königsbrunn sowie von evangelischer Seite die Dreifaltigkeitskirche in Bobingen und St. Johannes in Königsbrunn. In diesen Gemeinden sind auch viele der Chormitglieder während des Jahres aktiv.
Auch variieren die Gottesdienstformen, in denen die Gospelmusik erklingt: zwei ökumenische Gottesdienste unter gemeinsamer evangelischer und katholischer Leitung in Bobingen, ein evangelischer Gottesdienst und eine katholische Eucharistiefeier in Königsbrunn unter der jeweiligen konfessionellen Leitung. Vernetzt werden miteinander: verschiedene örtliche evangelische und katholische Kirchengemeinden und der der Chor. Gelingt dieses Wechselverhältnis gut, spricht man von einem kooperativen Zusammenspiel. Das ist eine innovative Form der Organisation und Kooperation in der Ökumene. Sie orientiert sich nicht nur an territorial abgegrenzten Gemeinden, sondern nimmt den Menschen in seiner individuellen Lebens- und Glaubenssituation im sozialen Raum wahr.
Mit einem mehr als 100 Personen starken Gospelchor springt in den Gottesdiensten der Funken über: die Gottesdienstbesucher klatschen, erheben ihre Hände, wippen im Rhythmus der Musik. Doch beginnen wir von vorne.
By Grace 2020
Alle Altersstufen – vom 14-jährigen Teenager bis zur 80-jährigen Seniorin – treffen sich zwischen Heilig Dreikönig und Fasching wöchentlich zu zwei Proben, einem Probenwochenende und vier Gottesdiensten an zwei Wochenenden. Dabei sind „Profis“, aber auch „Anfänger“, die sich mutig trauen oder von bereits begeisterten Freunden oder Partnern „mitgeschleppt“ werden. Bewährt hat sich dabei ein Mentoring-Prinzip: erfahrene Personen geben ihr Wissen und ihre Erfahrungen an unerfahrenere Personen weiter. Aus den beinahe 110 sehr unterschiedlichen Teilnehmenden formt die Leitung einen stimmgewaltigen Chor. Beim Einsingen versucht man mit den Händen die Decke des Probenraumes zu berühren, klopft sich am ganzen Körper ab und singt Unverständliches melodisch: „Mimimämimamimomimoumimi.“ Das Proben selbst ist von einer besonderen Atmosphäre geprägt: einerseits eine hohe Konzentration beim Einstudieren der Lieder, andererseits eine Lockerheit, sodass auch viel gescherzt und gelacht wird. Um ein homogenes Klangbild zu erreichen, wird an vielen kleinen Stellschrauben gedreht, damit am Ende Groove, Einstellung, Rhythmus, Intonation, Zusammenklang und Textverständnis stimmen.
Die Rückmeldungen der Leitung sind immer zielführend und ermutigend, denn aus Erfahrung wird vorausgesagt: „Das wird schon, wie jedes Jahr.“ Geübt werden meist englische Lieder. Doch die deutsche Übersetzung wird mitgeliefert und die theologischen sowie spirituellen Akzente werden – nebenbei – erschlossen. Gesungen werden Spirituals, wie Amazing grace, die als Wurzel des Gospels gelten. Bei Gospel, vom englischen „good spell“, im Deutschen „Gute Nachricht“, „Frohe Botschaft“, also „Evangelium“, handelt es sich – dem gängigen Verständnis entsprechend – um eine christliche, afroamerikanische Stilrichtung in der Musik, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts aus dem Spiritual sowie Elementen des Blues und Jazz entwickelt hat. Doch Genres-Grenzen kennt das Leitungsteam nicht. Neben altbekannten Gospelklassikern werden bekannte Gemeindegesänge (Lobe den Herren) „aufgepeppt“ und laden alle zum Mitsingen ein. Neben traditionellen Melodien gibt es Neukompositionen von Tobias Reinsch (Only By Grace, Stube Verlag, München 2017). Neues wagen, unkonventionelle Methoden einsetzen, viel Engagement und Begeisterung, vielleicht sind dies Gründe für die Lebendigkeit des Projektes.
20-Jähriges Gospelprojekt-Jubiläum
2001 startete Sigrid Pröbstl, als Leiterin der Kantorei Bobingen-Schwabmünchen, einen Gospelworkshop. Ziel war es, Nachwuchs anzusprechen. Mit schwungvollen Liedern sollte Gottesdiensten neues Leben eingehaucht werden. Die Idee zündete und aus dem Workshop wurde bald ein selbstständiges Projekt. Seit 2011 bereichert Tobias Reinsch die künstlerische Leitung ebenso, wie die Jazzband Trio Zahg den Chor fetzig begleitet.
Während das Gospelprojekt für die Singenden sechs Wochen dauert, denkt man im ehrenamtlichen Organisationsteam weit voraus:
Kontakte: Im Vorfeld sind die Kontakte zu den Gemeinden herzustellen, die Termine für die Gottesdienste festzulegen. Auch geht heute ohne Tontechniker nichts mehr. Für die Proben sind Räumlichkeiten zu reservieren. Vom evangelischen Gemeindehaus über das katholische Pfarrzentrum bis zur Aula in der Mittelschule ist alles dabei. Mehr als 100 Mitwirkende brauchen Platz, bei getrennten Proben von Frauen- und Männerstimmen sind mehrere Räume nötig.
Vernetzung: Die Datenschutzerklärung muss eingeholt und ein Adressverteiler erstellt und gepflegt werden, denn Infos und Hinweise sind digital zu vermitteln.
Öffentlichkeit: Wann informiert man über welche Kanäle (Gemeindebriefe, Medien, Flyer) die Bevölkerung über das Projekt und die Gottesdienste? Welche Werbung kann noch gestartet werden? Wer ist nach außen Ansprechpartner bei Fragen?
Texte und Layout: Wer schreibt Pressetexte und gestaltet das 24-seitige Gottesdienstheft ansprechend? Wer gibt Druckaufträge in welchem Umfang? Professionelle Unterstützung erfolgt durch ein Redaktionsbüro.
Noten und Liedtexte: Mit dem Probenstart müssen alle mit Noten und Liedtexten versorgt werden.
Wochenendprobe: Ein Haus muss gefunden, Zimmer müssen reserviert und verteilt, Buchung und Abrechnung durchgeführt werden.
Szene: Damit alle nach den Vorgaben der Dirigentin singen und von den Gottesdienstbesuchern gut gesehen werden, sind Podeste und Scheinwerfer zu organisieren, zu transportieren, ist der Auf- und Abbau zu gestalten.
Bilder: Fotos von Proben und Gottesdiensten sind für die persönliche Erinnerung und Pressearbeit unerlässlich.
Was bleibt?
20 Jahre Erfahrung, zehn treue ehrenamtliche Mitarbeitende, fast immer mehr als 100 Sängerinnen und Sänger, vier Gottesdienste in vier vollen Kirchen. Und zum 20-jährigen Jubiläum ein zusätzlicher Singgottesdienst mit Konzert, also: mitreißende Begeisterung. Ist das nun Gnade? In der eingangs angedeuteten Predigt wird gesagt: Gnade kann unverdientes Geschenk sein, für Familie oder Arbeitsplatz, aber auch von Gott geschenkte Kraft im Glauben, damit man auch schwere Zeiten durchsteht. Jede und jeder kann weiteres für sich ergänzen. Doch darüber hinaus spüren alle, was Victor Hugo so formulierte: „Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist.“ Erstaunlich gnadenvoll.
Titelbild: Der Ansatz des Gopsel-Projekts ist innovativ und ökumenisch – und erfolgreich. Seit Jahren kann man fast immer mehr als 100 begeisterte Sängerinnen und Sänger gewinnen.
Foto: Michael Stern