Stefan Hunstein, „Gegenwart…!“, Videoinstallation in St. Paul, 2008/ 2013
Foto: Stefan Hunstein
Heilende Aspekte in der Begegnung von Kirche und zeitgenössischer Kunst
Die Begegnung von Kunst und Kirche kann heilsame Prozesse anstoßen. „Art is a Doctor“ hieß, entsprechend der Erfahrung der heilsamen Kräfte, eine Ausstellung der in Klagenfurt geborenen Künstlerin Zenita Komad im Frühjahr 2017 in der Galerie der Deutschen Gesellschaft für christliche Kunst in München (vgl. Seite 26). Die Kuratorin Joanna Warsza bringt die Rolle der Kunst in der gegenwärtigen Gesellschaft auf den Punkt: „Zeitgenössische Kunst ist in dieser enorm simplifizierten Gegenwart eine ideale Plattform für Reflexion.“ Die Diagnose: Wir leben in einer Zeit extremster Vereinfachung und Polarisierung. Die Therapie: Zeitgenössische Kunst kann beitragen, dieser Simplifizierung zu begegnen und heilend einzuwirken.
Die heilsame Begegnung von Kirche und Kunst zu fördern ist Aufgabe des Fachbereichs Kunstpastoral der Erzdiözese München und Freising mit Sitz in München St. Paul. Diese Begegnung ist ebenso Aufgabe und Chance der gesamten Kirche und jedes einzelnen Gläubigen, wie es das Zweite Vatikanische Konzil betont hat: „Durch angestrengtes Bemühen soll erreicht werden, dass die Künstler das Bewusstsein haben können, in ihrem Schaffen von der Kirche anerkannt zu sein, und dass sie im Besitz der ihnen zustehenden Freiheit leichter zum Kontakt mit der christlichen Gemeinde kommen. Auch die neuen Formen der Kunst sollen von der Kirche anerkannt werden.“ (Gaudium et Spes Nr. 62)
Simplifizierung und Polarisierung
Beim Versuch, die gegenwärtige gesellschaftliche Stimmungslage zu diagnostizieren, kommt man nicht umhin, einen Hang zu Simplifizierung und Polarisierung festzustellen. Papst Franziskus warnte in seiner Rede vor dem US-Kongress 2015: „Es gibt eine Versuchung, vor der wir uns besonders hüten müssen: Es ist der grob vereinfachende Reduktionismus, der die Wirklichkeit in Gute und Böse oder in Gerechte und Sünder unterteilt. Die heutige Welt mit ihren offenen Wunden verlangt, dass wir jeder Form von Polarisierung entgegentreten.“
Gerade Bilder müssen hier genau betrachtet und befragt werden: Ein großes Fragezeichen muss hinter eine kirchliche Binnen-Ästhetik gesetzt werden, die es laut den Konzilsdokumenten gar nicht geben darf, und deren ästhetisches und inhaltliches Niveau in keiner Weise mit dem zeitgenössischen künstlerischen Diskurs Schritt halten kann. Zeitgenössische Kunst verweigert sich konsequent aller Simplifizierung. Das Leben ist zu vielgestaltig und oft auch widersprüchlich, als dass ihm eine solche Vereinfachung gerecht werden könnte.
Differenzierung und Begegnung
Zeitgenössisches Kunstschaffen in seinen vielfältigen Formen reflektiert Lebenserfahrung und Lebensgefühl der Gegenwart und reagiert auf die aktuellen Fragen der Menschen. Dabei ist für suchende und glaubende Menschen Entscheidendes zu entdecken. Johannes Paul II. sagte 1985: „Eine Welt ohne Kunst kann sich schwerlich dem Glauben öffnen.“
Starke Bilder beinhalten immer auch Widerständiges und Ambivalentes. Bewusst sprach Jesus in Bildern, in Gleichnissen. Wer jemals mit Kindern über das Gleichnis vom barmherzigen Vater (Lukas 15,11-32) gesprochen hat, kennt den Protest: „Das ist ungerecht, warum bekommt der jüngere Sohn, der alles verprasst hat, ein Fest und der ältere nicht?“ In der Frohen Botschaft Jesu gibt es eben Widerständiges und Widersprüchliches.
Sensibilisiert wurde ich für diese Fragestellung durch die Videoinstallation „lichtundschatten“ der Schweizer Künstlerin Judith Albert. Die Videoarbeit wurde im Rahmen der Kunstinstallation „Die Gabe“ zum Heiligen Jahr der Barmherzigkeit in St. Paul gezeigt.

Judith Albert, lichtundschatten, Videoinstallation, 2015, Ansicht während der Kunstinstallation „Die Gabe“ in München, St. Paul. Foto: Gery Hofer
Der Künstlerin war bei einem Aufenthalt in Genua der Schatten einer segnenden Priester-Statue aufgefallen. Die Statue stellt den „Padre Santo“ dar, einen Ordenspriester, der sich im 19. Jahrhundert um verarmte Familien in Genua verdient gemacht hatte.
Zu einer ganzheitlichen Therapie gehört nicht nur die aktive Auseinandersetzung mit Herausforderungen von Außen, sondern ebenso und in besonderer Weise die Förderung der eigenen, inneren Kräfte. Im religiösen Kontext lassen sich hier Gebet, Meditation, Kontemplation verorten als vertiefte Form der Begegnung mit sich selbst und Gott.
Bei aller Kunst, die wir in engem Austausch mit der Hauptabteilung Kunst der Erzdiözese und dem Kuratorium der Kunstpastoral im Kirchenraum zeigen, ist die liturgische Nutzung des Raumes und der Kirchenraum als Ort der Stille und des Gebetes zentral im Blick.
In der Videoarbeit „Gegenwart…!“ des Fotokünstlers und Schauspielers Stefan Hunstein treten dem Betrachter, aus dem Dunkel leuchtend, die Köpfe von sieben Männern entgegen. Das Leben hat sich in die sehr unterschiedlichen Gesichter eingezeichnet, für den Künstler sind es auch Vaterfiguren. Erst auf den zweiten Blick erkennt der Betrachter, dass sich die Gesichter leicht bewegen, dass ab und an ein Wimpernschlag zu erkennen ist. Stefan Hunstein spricht von „nicht mehr Fotografie und noch nicht Film“.
Dialog von Kirche und Kunst
Es gibt Scheitern. Diese Erfahrung ist allgegenwärtig im künstlerischen Schaffen. Als Christen kennen wir Scheitern ebenso und sind aufgerufen an der Gestaltung einer gerechteren Welt mitzuwirken. Wichtig ist aus diesem Bewusstsein heraus vorzusorgen für eine heilere Zukunft eines gelingenden Lebens und Zusammenlebens der Menschen im Sinn einer Prävention. Dem Dialog von Kunst und Kirche kommt hier zentrale Bedeutung zu. In seinem Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium schreibt Papst Franziskus: „Man muss wagen, die neuen Zeichen zu finden, die neuen Symbole, ein neues Fleisch für die Weitergabe des Wortes“ (EG 167).
Dialog achtet die Identität des Gesprächspartners und tritt mit Selbstbewusstsein und Interesse auf den anderen zu. In diesem Sinn macht die Kunstpastoral in der Kirche niemals Ausstellungen. Wir machen Kunstinterventionen oder Installationen, die in Dialog mit dem Raum und den Fragestellungen des Glaubens treten. Künstler freuen sich in aller Regel über dieses Angebot. Hier ergeben sich spannende neue Bezüge und Wechselwirkungen.
In den TatOrtZeit-Gottesdiensten sonntags um 20:15 Uhr in St. Paul führen wir diesen Dialog im Gottesdienst. Zeitgenössische Musik und zeitgenössische Kunst treffen auf Liturgie und Bibeltexte. Dabei werden Kunstwerk und Evangelium eigenständig betrachtet und zugleich in Beziehung gebracht, ohne zu vereinnahmen oder zu katechisieren – im Idealfall entsteht aus dieser Begegnung heraus etwas drittes Neues, das Perspektiven eröffnen kann.
Der Dialog mit den Künsten kann also nicht nur Bereicherung christlichen Glaubens und christlicher Verkündigung sein, er ist Lebensnotwendigkeit, wenn unser Glaube die heutige Welt verstehen, in ihr Gestalt werden und in ihr heilsam mitwirken will. Jeder Christ sollte in diesen Dialog eintreten, zeitgenössische Kunstausstellungen, Performances, Konzerte oder Theateraufführungen besuchen und selbst mit Künstlern das Gespräch suchen, sich existentiell berühren lassen und in diesem Austausch sich immer wieder neu der Frage nähern: Wie kann unser christlicher Glaube heute aussehen und wie kann dieser heilend in dieser Welt wirken?