Auch in Bayern steigt die Zahl der armen Rentnerinnen und Rentner
Sie kann zufrieden sein, sagt Erna T. (Name geändert). Hat sie doch ein Dach über dem Kopf. Immer genug zu essen. Auch mangelt es nicht an Kleidung. „Nur mal wieder zum Friseur zu gehen“, sagt die 85-jährige Armutsrentnerin aus Würzburg, „das wäre schön.“ Vor vielen Monaten war Erna T. zuletzt beim Friseur gewesen. Der hatte nur geschnitten: „Ich habe extra die Haare zu Hause gewaschen.“ Dennoch verlangte er 28,57 Euro. Erna T. war schockiert. Dieser Betrag, für sie ein kleines Vermögen.
Erna T. kann was. Sie hat Steno, Englisch, Nähen und Hauswirtschaft gelernt. 30 Jahre ihres Lebens schuftete die vierfache Mutter in privaten Haushalten: „Allerdings nicht angemeldet.“ Aus diesem Grund hat sie jetzt so wenig zum Leben. Zum Glück hatte ihr 2010 verstorbener Mann einen guten Job: „Er war bei der Post.“ Unterm Strich bleibt Erna T. dennoch nicht viel Geld. Zumal sie sich um ihren schwer psychisch kranken Sohn kümmert, der bei ihr wohnt. Beide müssen im Monat mit insgesamt 900 Euro auskommen. Erna T. versucht, zu sparen, wo immer es nur geht.
Das heißt für sie nicht einmal, in den sauren Apfel zu beißen, wie sie rasch versichert. Erna T. ist eine Lebenskünstlerin. Sie nimmt die Dinge, wie sie sind. „Und ich geb‘ nie auf!“, betont sie und lacht. Über ihre Lage jammert sie nicht. Sie versucht sogar, dem Ganzen gute Seiten abzugewinnen. Während sich zum Beispiel viele arme Senioren schämen, zur Tafel zu gehen, ist sie einfach nur froh, dass es diese Einrichtung gibt. Mehr noch: Die Tafel ist für Erna T. ein Gewinn. „Ich hab‘ hier Sachen bekommen, die ich noch nie zuvor gegessen habe, Kiwi zum Beispiel“, strahlt sie.
Dass sie sich jemals finanziell verbessern wird, glaubt Erna T. nicht. Bis zum Ende ihres arbeitsreichen Lebens wird sie immer nur Sonderangebote einkaufen können. Wird sie, solange ihre Beine sie noch tragen, jede Woche vor der Tafel anstehen. Braucht sie etwas Neues zum Anziehen, geht sie zum Würzburger Sozialkaufhaus „Brauchbar“. Wobei das nicht oft vorkommt. „Schauen Sie, dieser Pullover ist schon 20 Jahre alt“, sagt sie. Und er sieht immer noch gut aus. Auch die rote Jacke hat Erna T. schon lange. Sie zeugt von jenen Tagen, als die Seniorin deutlich beleibter war. Jetzt ist ihr die Jacke viel zu groß, aber eben noch pfenninggut: „Deshalb werf‘ ich sie nicht weg.“
Ein Drittel sind Senioren
Immer mehr Menschen kommen im Alter finanziell in die Bredouille, sagt Andreas Mensing, Vorsitzender der Würzburger Tafel, die derzeit 800 Haushalte versorgt. Im Schnitt hat jeder dieser Haushalte zwei bis drei Mitglieder. Damit helfen die 160 Ehrenamtlichen etwa 2.000 Würzburgern, materiell zu überleben. Bei gut einem Drittel aller Tafel-Besucher handelt es sich laut Mensing um Armutsrentner. Ihr Anteil steigt: „Und es ist keine Änderung in Sicht.“ Nachdem er selbst mit seinen 73 Jahren Rentner ist, geht Mensing die Entwicklung nahe: „Für die meisten Betroffenen ist es wirklich bitter, zu uns kommen zu müssen.“

Das von der Tafel eingesammelte Gemüse ist genauso gut wie aus dem Supermarkt, zeigt die Ehrenamtliche Jelena Maurer.
Für manche ist es sogar undenkbar. Weshalb sie sich keinen Berechtigungsschein holen. Und lieber weniger essen. Wie groß die Scham ist, Altersarmut zuzugeben, erfährt man nicht nur bei der Tafel. Auch die Malteser, die vor mehr als zehn Jahren in Bayern das Projekt „Mahlzeitenpatenschaften“ gestartet haben, wissen, wie schwer es Senioren fällt, sich als arm zu outen. In Unterfranken zum Beispiel musste die Initiative nicht zuletzt aus diesem Grund wieder eingestellt werden. „Die Zurückhaltung der betroffenen Senioren, sich für das Projekt zu melden, war sehr hoch“, sagt Unterfrankens Malteser-Pressesprecherin Christina Gold.
Wie weit das Credo „Armut schändet!“ verbreitet ist, weiß man auch bei den Maltesern in Regensburg, wo es seit zehn Jahren Mahlzeitenpatenschaften gibt. Im vergangenen Jahr wurden im Schnitt 24 arme Menschen regelmäßig mit Essen versorgt. „Mit Sicherheit gibt es viel mehr Bedürftige, doch die Schamgrenze ist hoch, wenn es darum geht, Hilfe von anderen anzunehmen“, sagt Alexandra Bengler, Diözesanreferentin beim Malteser Hilfsdienst in Regensburg. Vielen Senioren blieben nach Abzug der Miete weniger als 500 Euro zum Leben: „Ganz oft trifft die Altersarmut Frauen, die die Kinder versorgt und Familienmitglieder gepflegt haben.“
Ein heikles Thema
Bedürftigkeit ist ein äußerst heikles Thema für Senioren, bestätigt Wilhelm Horlemann, Pressesprecher des Malteser Hilfsdienstes in der Erzdiözese München und Freising. Von dort werden aktuell etwa 270 bedürftige Menschen versorgt. Die jeweiligen Paten spenden sechs Euro pro warmer Mahlzeit.

Zwischendurch nimmt sich Margarete Appelmann kurz Zeit, um mit einem Tafel-Gast zu sprechen.
Horlemann sagt: „Die Spenden für dieses Projekt werden gebündelt und dann an die Bedürftigen in Form der regelmäßigen Mahlzeiten ausgezahlt. Eine Situation, dass Nachbar A für Nachbar B spendet, gibt es in dem Sinne also nicht.“ Wären die Mahlzeitenpatenschaften nicht anonym, würden sie sehr wahrscheinlich von noch weniger Menschen in Anspruch genommen.Während die unverwüstliche, lebenskluge Erna T. ihr Leben ganz gut deichseln kann, fühlen sich arme Menschen im Heim der Situation oft hilflos ausgeliefert. Das bekommt Wolfgang Zecher, Altenheimseelsorger in der Diözese Würzburg, mit. „Laut Statistik beziehen rund 30 Prozent der Heimbewohner in Bayern Sozialleistungen“, sagt er. Sie erhalten pro Monat ein Taschengeld von 114 Euro. Davon muss alles bezahlt werden, was nicht im Preis des Heims inbegriffen ist. Zecher: „Nicht wenige dieser Bewohner leiden darunter, dass sie zum Beispiel ihren Enkeln nie Geschenke machen können.“
Zahlen & Fakten
Die Zahl der Menschen, die Grundsicherung beziehen, hat sich seit ihrer Einführung mehr als verdoppelt, von 260.000 Menschen im Jahr 2003 auf heute 570.000. Bayernweit sind nach Angaben des Sozialverbandes VdK 400.000 Rentner arm. Parallel zur wachsenden Armut wuchs in Bayern die Zahl der Tafeln. 169 Tafeln gibt es aktuell. 7.000 Ehrenamtliche tun hier Dienst.
Titelbild: Ehrenamtliche helfen bei der Würzburger Tafel Menschen in prekären Lebenslagen.
Fotos: Pat Christ