Die Veränderungen an sich selbst annehmen
Interview mit Dr. Wolfgang Decker
Dr. med. Wolfgang Decker war als Internist Chefarzt am Fürstenfeldbrucker Krankenhaus. Im Ruhestand hat er eine so genannte Tafel mit aufgebaut und sowohl in der Organisation als auch praktisch als Fahrer mitgearbeitet. Er ist Vorsitzender des Fördervereines für das Krankenhaus Fürstenfeldbruck, der seit rund 10 Jahren besonders die Palliativstation und auch ein ambulantes palliativmedizinisches Team unterstützt. In seiner Freizeit spielt der 77-Jährige Cello.
Gemeinde creativ: Warum brauchen denn Senioren besondere Aufmerksamkeit?
Decker: Der Anteil von Senioren in der Bevölkerung nimmt erheblich zu. Senioren sind heute viel aktiver und auch leistungsfähiger als in früheren Zeiten. Das ist den guten Bedingungen nach dem Krieg geschuldet. Seither gab es keine Notzeiten mehr und die medizinischen Möglichkeiten sind viel besser geworden.
Gemeinde creativ: In der Öffentlichkeit werden Senioren überwiegend defizitär beschrieben, obwohl sie doch so viel gesünder sein sollen .
Decker: Ich nehme diese defizitäre Beschreibung so nicht wahr. In meinem Umfeld sind viele Senioren noch sehr aktiv. Natürlich gibt es viele, die sich zurückziehen und sich nicht mehr um alles kümmern. Ich glaube, das ist ein Problem des Einzelnen, wie er sich in der letzten Lebensphase fühlt, was er tut, wie er sich selbst fordert.
Gemeinde creativ: Wie haben sich denn über die Jahre die Senioren aus Ihrer Sicht als Arzt verändert?
Decker: Wie schon gesagt, sie sind zum großen Teil aktiver geblieben, als dies früher der Fall war. Die Einsamkeit spielt aber sicher eine zunehmende Rolle, wegen der Mobilität der Kinder beispielsweise. Die Hochbetagten vereinsamen auch, weil viele ihrer Verwandten und Freunde bereits gestorben sind. Aber es liegt am Einzelnen, wie er versucht diese Einsamkeit zu überwinden. Dazu gibt es in Fürstenfeldbruck viele Angebote von den Kirchen, der Arbeiterwohlfahrt oder auch der Stadt.
Gemeinde creativ: Früher hat man viel für Senioren gemacht, müsste man nicht eher mit Senioren etwas machen?
Decker: Ja natürlich. Man soll nicht nur etwas vorsetzen, sondern es muss von den Senioren auch etwas eingebracht werden. Da gibt es sicher noch Entwicklungsmöglichkeiten in den kirchlichen Gemeinden, auch in der Kommune. Es wird in unserer Gemeinde viel gemacht, aber das ist nicht überall so.
Gemeinde creativ: Manche Senioren sagen, dass sie nicht zum Seniorenkreis gehen, weil sie noch nicht alt seien.
Decker: Das ist ein Problem, vor allem für die, die nicht einen so aktiven Freundeskreis haben wie ich oder aktiv musizieren. Manche verpassen den Zeitpunkt, schieben es vor sich her, vielleicht auch neuen Anschluss zu suchen, sich in eine Gruppe zu integrieren. Wenn man über 80 ist, ist das viel schwieriger wie zu Beginn des Ruhestandes.
Gemeinde creativ: Es kommt der Zeitpunkt, wo man nicht mehr so aktiv sein kann. Das ist eine Schwelle, die für viele schwierig ist .
Decker: Besonders, wenn sie es für sich nicht akzeptieren. Ich selbst musste meine Mitarbeit bei der Tafel einstellen, weil ich nicht mehr viele Stunden Kisten ein- und ausladen konnte. Nur am Schreibtisch wollte ich aber dort dann auch nicht mehr arbeiten. Ich hatte das Glück, dass es Mitarbeiter gab, die meine Arbeit fortführen.
Gemeinde creativ: Wie ist es, wenn Menschen nach und nach auf die Hilfe anderer angewiesen sind?
Decker: Das zu akzeptieren ist für viele schwierig, besonders für jene, die selbst immer aktiv waren, etwa ein eigenes Haus hatten, um das sie sich kümmerten und die immer gut für sich sorgen konnten. Viele können sich nicht entscheiden in ein Seniorenheim zu gehen. Sie leben dann unter ganz unzulänglichen Bedingungen. Manchmal helfen die Nachbarn; wer es sich leisten kann, holt sich Hilfe aus Osteuropa. Aber Hilfe zu akzeptieren, beispielsweise bei der Körperpflege, ist schwierig, auch wenn es gute ambulante Dienste gibt, die dann helfen.
Gemeinde creativ: Sie sprechen immer wieder von Akzeptanz, vom Annehmen der eigenen Situation. Ist Älterwerden auch eine Kopfsache, wie ich damit umgehe?
Decker: Ja, eine Frage der Lebenseinstellung. Akzeptiere ich es, wenn körperliche und geistige Fähigkeiten abnehmen? Mir geht es so mit manchen Gremien, dem Pfarrgemeinderat zum Beispiel, in den ich mich nicht mehr so aktiv einbringen kann wie früher. Da höre ich jetzt auf, damit nicht der Eindruck entsteht, ,kann er denn gar nicht aufhören‘. Manche klammern sich an irgendwelche Aufgaben und Funktionen, um selbst der Wirklichkeit auszuweichen, dass sie eben weniger leisten können.
Gemeinde creativ: Viele Senioren haben das Gefühl anderen zur Last zu fallen, was bis hin zu Suizidgedanken führt und die Diskussion um die aktive Sterbehilfe prägt.
Decker: Für viele ist es eine Frage der Würde, wenn sie sich nicht mehr selbst versorgen können. Dann ist es entscheidend, wie beispielsweise die ambulanten Dienste mit diesen Menschen umgehen, um die Würde zu wahren. Das ist auch der Ansatz der Palliativmedizin und der Hospizarbeit: Lebensqualität zu bewahren, so gut und so lange es eben geht. Früher hatten Menschen, die als austherapiert galten, oft eine mindere Lebensqualität. Wenn der Mensch das Gefühl hat, er ist umsorgt und hat keine unnötigen Beschwerden, kommen selten Gedanken an Sterbehilfe auf. Die Menschen haben ja weniger Angst vor dem Sterben, als vielmehr vor einem quälenden Leiden. Dies aber kann heute gerade durch die Palliativmedizin in der Regel vermieden werden.
Gemeinde creativ: Hilft der Glaube beim Älterwerden?
Decker: Ja, ganz entscheidend. Ich habe mich in den letzten Jahren um eine hochbetagte, unheilbar kranke Dame gekümmert. Sie hat letzte Therapieversuche zurückgewiesen mit den Worten ,ich freue mich auf das neue Leben‘. Die pastorale Betreuung der Senioren ist deshalb eine wichtige Aufgabe. In der Familien- und Berufsphase spielen spirituelle Fragen oft aus Zeitgründen eine geringe Rolle. Später, wenn man Zeit hat, tauchen die Fragen auf. Dann braucht es Begleitung durch Seelsorger.
Gemeinde creativ: Einen Automatismus, dass das Alter fromm macht, gibt es aber nicht, oder?
Decker: Nein. Es wenden sich aber viele spirituellen Fragen zu, weil man mehr Zeit hat und weil die Frage, was nach dem Tod sein wird, drängender wird. Aber automatisch kommt das nicht.
Gemeinde creativ: Brauchen Senioren wieder „Stunden“ im Glauben, gewissermaßen eine Katechese?
Decker: In den Krankenhäusern und Altenheimen haben die Menschen in der Regel ja gute Möglichkeit zum Gespräch mit Seelsorgern. Schwieriger ist es, die Menschen zu erreichen, die zu Hause leben, vielleicht gerade noch zum Gottesdienst oder in Altenkreise kommen. Inwiefern hier bei Bedarf Gespräche mit Seelsorgern möglich sind, entzieht sich meiner Kenntnis.
Gemeinde creativ: Klingt da auch ein Wunsch an die Kirche durch?
Decker: Die Seelsorge für Ältere ist eine ganz große Aufgabe. Nicht nur für die Jugend, auch für die Senioren müssten niederschwellige Angebote entwickelt werden.
Gemeinde creativ: Für das Leben der Senioren muss es auch bestimmte politische Rahmenbedingungen geben. Was wünschen sie sich von dieser Seite?
Decker: Letztlich hängt viel am Geld. Für viele sind die Renten schon sehr gering. Die Bedingungen für die Palliativmedizin und die Hospizarbeit sind regional sehr unterschiedlich. Was fehlt, ist eine Finanzierung von stationären Hospizeinrichtungen. Neben den ehrenamtlichen Hospizhelfern gibt es einen steigenden Bedarf an stationären Hospizen. Die 10 Prozent der Kosten, die der Hospizträger vom Gesetz her übernehmen muss, steigen oft auf das Doppelte bis Dreifache an. Dieses Defizit muss durch Spenden gedeckt werden.
Gemeinde creativ: Für solche Einrichtungen, aber auch für die vorhandenen Pflegeeinrichtungen und Krankenhäuser wird es immer schwieriger, Personal zu finden.
Decker: Hier müsste man an den Einkommen etwas ändern. Wir brauchen hoch qualifiziertes Personal. Deshalb wird auch die Wanderung von Arbeitnehmern aus dem Ausland zunehmen. Aber auch dafür müssen die Rahmenbedingungen stimmen.
Das Gespräch führte Thomas Jablowsky.