Inge Finauer leitet für das Kreisbildungswerk Mühldorf seit vielen Jahren Kurse in Biografischem Schreiben. Neben „Stammkunden“ kommen immer wieder auch neue Leute, die ihre eigene(n) Geschichte(n) zu Papier bringen wollen.
Es ist für jeden Menschen ein Gewinn, wenn er sich mit den eigenen Erinnerungen beschäftigt, sie aufschreibt und nicht nur mündlich an die Familie weitergibt. So können Familienwurzeln entstehen und wachsen. Ebenso wäre es wichtig, das Wissen als „Zeitzeuge“ bei Geschichtsprojekten weiterzugeben, so dass die nachfolgenden Generationen hören und verstehen können.
Am besten gelingt das in einer Gruppe Gleichgesinnter, wenn eine Biografietrainerin anleitet. Bei solchen vorbereiteten Treffen fällt es den Teilnehmern leichter, bestimmte Erinnerungen aus dem Gedächtnis zu holen. Ältere Menschen fühlen sich in diesen Gruppen mit geistiger Beschäftigung und Wertschätzung ihrer Arbeit wohl. Das Aufschreiben ist wichtiger als nur Erzählen, weil mündlich Weitergegebenes oft falsch verstanden, falsch weitererzählt oder ganz vergessen wird.
An meinen Schreibkursen nahmen beziehungsweise nehmen Frauen und Männer im Alter zwischen 28 und 89 Jahren teil – viele davon über mehrere Jahre hinweg. Ein Drittel davon sind heute Männer. Zum Vergleich: zu Beginn im Jahr 2000 waren nur Frauen gekommen.
Wie sieht der Kursalltag aus?
Die Teilnehmer sitzen zu Beginn meist in einem Stuhlkreis um eine Mitte, die entsprechend dem Kursthema gestaltet ist. Fragen und Austausch leiten ein und an, so dass schon während des Treffens kurze Texte in etwa 20 Minuten entstehen können. Alle arbeiten dabei an demselben Thema, herausgekommen sind noch immer ganz unterschiedliche Geschichten. Wer mag, kann seinen Text anschließend in der Gruppe vortragen. Das Vorlesen im Teilnehmerkreis bringt Lob zum Stil, der Genauigkeit und Lebendigkeit der Texte ein. Das Vorlesen ist natürlich freiwillig – ein Nein ist ein Nein und wird auch nicht bewertet oder kommentiert. Aber auch ein Hinweis auf unklare Stellen, eventuell offengebliebene Fragen und Vorschläge für Verbesserungen bei der Wortwahl werden gerne angenommen; auch weil in der Schreibgruppe das ungeschriebene Gesetz gilt: „Offenheit nach innen und Stilschweigen nach außen“. Daher trauen sich viele, ihre Texte vorzutragen. Schließlich sitzen „alle im selben Boot“. Sie freuen sich über das Interesse und die Unterstützung durch die anderen Teilnehmer. Oft wird auch diskutiert, welcher der geplanten Titel der beste und passendste für die Geschichte wäre. Das Vorlesen ist natürlich freiwillig – ein Nein ist ein Nein und wird auch nicht bewertet oder kommentiert.
So entstehen Arbeiten, die nicht nach altbekanntem Muster chronologisch aufgeschrieben werden, nicht von der Wiege bis zur Bahre. Sonst würden vielleicht nur Fakten, Daten und Ereignisse des Lebens aufgezählt. Aber: persönliche Gefühle und Meinungen dürfen in keiner autobiografischen Geschichte fehlen, sonst sind diese Erinnerungen langweilig für das Publikum.
Themen aus dem Leben
Die Biografie-Trainerin sucht aus den drei Hauptsträngen der Biografie – individuelle Biografie, Familiengeschichte und Zeitgeschichte – abwechselnd Themen aus und bereitet sie entsprechend vor, so dass alle ihre eigene Geschichte darin entdecken können. Die Themen können sich also am Lebens- oder Jahreslauf orientieren, zum Beispiel wurden schon Geschichten zu „Weihnachten“ zu Papier gebracht, ebenso Erlebnisse aus der Schulzeit, Begegnungen in der Heimatstadt, Urlaubseindrücke, aber auch Erinnerungen an die Kriegsjahre und die karge Zeit danach.
Ein Beispiel: Der erste Schultag – die Kursleiterin stimmt auf das Thema ein und versucht mit ungewohnten, nicht erwarteten Fragen Erinnerungen zu wecken. Es ist nicht so wichtig, sich an das Datum der Einschulung zu erinnern, sondern wie man diesen Tag erlebt hat: Erinnerst Du dich an Worte, die Dir die Mutter mitgegeben hat? Hat Dich Jemand auf dem ersten Schulweg begleitet? Vielleicht gab es eine Schultüte, wenn ja, was war da drin und wie sah sie aus? Kannst Du dich an die Namen Deiner Mitschüler erinnern, die zu deinen Schulfreuden wurden? Die Antworten fallen je nach Alter der Schreibenden und dem Zeitpunkt der Einschulung sehr unterschiedlich aus. Manch eine oder einer muss zugeben, nur Angst und Einsamkeit gespürt zu haben. Für Begleitung hatte niemand Zeit, für eine neue Schultasche oder süßes Geschenk war kein Geld da. Oft kommt dann der Satz: „Aber trotzdem ist was aus mir geworden!“ und zugleich der tröstende Applaus der Gruppe.
Anderen erzählen
Es wäre schade, wenn all die entstanden Geschichten nur für die Schreibtischschublade geschrieben worden wären. Daher haben wir nach Möglichkeiten gesucht, sie öffentlich bekannt zu machen. Inzwischen zählen wir im Landkreis Mühldorf mehr als 70 Lesungen, bei denen Kursteilnehmer ihre Geschichten publik gemacht haben. Zudem finden im Landkreis Mühldorf regelmäßig sogenannte Geschichtstage statt. In diesem Rahmen konnten Kursteilnehmer als Zeitzeugen mitwirken und ihre selbst geschriebenen Geschichten präsentieren. Zum Bombenangriff auf Mühldorf am Josefitag 1945 gab es Autorenlesungen in der NS-Ausstellung im Mühldorfer Haberkasten. Eine besondere Ausstellung fand in der Kreisklinik Mühldorf statt, mit dem Titel: „Text und Textil“. Dabei wurden persönliche, originale, textile Objekte mit Geschichte, zusammen mit autobiografischen Geschichten gezeigt. Darüber hinaus werden die Geschichten immer wieder in Schulen gelesen. Der Austausch mit den Schülerinnen und Schülern zu den biografischen Texten und den Themen dahinter wie Flucht, Vertreibung und Not sind immer sehr spannend. Als Höhepunkt unserer gemeinsamen biografischen Arbeit entstand das Buch „Gelebtes Leben – 99 Biografische Geschichten“.

Viele Zuhörer bei der öffentlichen Lesung in der NS-Ausstellung im Haberkasten Mühldorf. Foto: KBW Mühldorf.
Der Raum schreibt mit
Zum Anlass der Ausstellung „Mühldorf – 200 Jahre Salzburg in Bayern“ erschien das Handbuch historische Kulturarbeit. Ich durfte darin das Kapitel „Über die Lebensgeschichte in der Geschichte“ verfassen und biografische Gespräche im Rahmenprogramm der Ausstellung leiten. Für das Gelingen solcher Formate ist der Raum entscheidend: In der Regel wird sich die Gruppe in einen Raum zurückziehen, in dem sie von außen nicht gestört wird. Die Größe des Raumes sollte der Teilnehmerzahl angepasst, weder zu groß noch zu klein, geeignet möbliert und mit Flipchart, Moderationskoffer und anderen benötigten Arbeitsmaterialien ausgestattet sein. Farben, Raumgestaltung, Lichtverhältnisse und Temperatur sind wichtige Einflussfaktoren und vermitteln je nachdem eher Sterilität oder Motivation und sie beeinflussen, wenn auch nur unterbewusst, das Gesprächsklima: ein heller, lichtdurchfluteter, freundlicher Raum ist immer von Vorteil. Wenn jeder Teilnehmer die anderen beim Gespräch gut sehen kann, erleichtert das die Kommunikation. Das Gespräch kann dann nicht nur mit den Ohren, sondern auch mit den Augen verfolgt werden. Dadurch verstehen alle leichter, fühlen sich eher angesprochen und sind mehr einbezogen. Runde oder ovale Tische sind für Gesprächsgruppen besser geeignet als rechteckige. Am besten aber beginnt man im offenen Stuhlkreis und setzt sich erst zum Schreiben an die Tische.
Für sich schreiben
Wenn Sie keine Möglichkeit haben, angeleitet in einer Gruppe zu schreiben, können Sie es auch alleine angehen. Schreiben Sie einfach einmal drauf los. Ihre Erfahrung und Erinnerung sind wertvoll, besonders in einer so schnelllebigen Zeit und für Ihre Familie. Wichtig: nicht bei der Geburt beginnen! Es soll ja kein Lebenslauf für eine Bewerbung werden. Schreiben Sie auf Notizzettel kurz die Erinnerungen, die Ihnen spontan zwischendurch einfallen. Nehmen Sie sich für das Schreiben eine bestimmte, regelmäßige Zeit fest vor. Es macht Freude, sich gute Erlebnisse wieder zu vergegenwärtigen und Negatives kann so neu gesehen und verarbeitet werden. Schreiben bringt Ordnung in den Kopf. Noch ein Tipp zum Schluss: Erinnerungen vergegenwärtigen sich besonders gut, wenn man mit der Hand schreibt.
Viele biografische Geschichten hat die Schreibgruppe des Kreisbildungswerks Mühldorf seit dem Jahr 2000 zu Papier gebracht. 99 davon wurden gesammelt und als Buch unter dem Titel Gelebtes Leben – 99 Biografische Geschichten herausgegeben. Dort schildern die 40 Autorinnen und Autoren ausschließlich echte, authentische Lebenserinnerungen – keine Geschichte ist der bloßen Phantasie entsprungen. Die Texte wollen zum eigenen Schreiben oder wenigstens Erzählen anregen. Das Buch liegt mittlerweile in der zweiten Auflage vor und kann beim Kreisbildungswerk Mühldorf zum Preis von 9,90 Euro (zzgl. Versandkosten) bestellt werden.
Fotos: Effe64 / Adobe Stock und Finauer / KBW Mühldorf