Eine große Idee hat Zukunft
Als der Soziologe Heinz Bude vor einem Jahr ein Buch mit dem Titel „Solidarität“ veröffentlichte, hat er im Untertitel von der „Zukunft einer großen Idee“ gesprochen. Der Einstieg in die viel gelesene Schrift ist zurückhaltend: „Solidarität war einmal ein starkes Wort. Es geriet in Verruf, als jeder für sein Glück und seine Not selbst verantwortlich gemacht wurde.“
In Zeiten der Coronakrise hat sich das Blatt gewendet. Solidarität ist zu einem der einflussreichsten ethischen Leitbegriffe geworden. Dabei ist die Zielrichtung, mit der aktuell solidarisches Verhalten angemahnt wird, eher untypisch für das, was normalerweise unter Solidarität verstanden wird: „Solidarität heißt jetzt: physisch Abstand halten“. Eine gewisse Verdrehung ist das, weil sich solidarisches Verhalten normalerweise darin zeigt, dass wir uns nahe sind und beispielsweise durch Umarmungen zeigen, dass wir uns beistehen. Alle Bilder der Solidarität, zumal der Arbeiterbewegung, zeigen Hände, die ineinandergreifen. Nun muss man Abstand halten, dem Nächsten fernbleiben. Und doch ist das „Social Distancing“ ein Akt der Solidarität. Wir spüren: Unser Handeln ist für andere überlebenswichtig. Wir bleiben zu Hause, um zu verhindern, dass sich das Virus ausbreiten kann. Wer Abstand hält, tut dies aus Eigeninteresse, er tut dies aber auch, um die zu schützen, die besonders gefährdet sind: die Alten, Schwachen und Kranken. Solidarität drückt sich in der gemeinsamen Bereitschaft aus, Lasten zugunsten anderer (mit)zutragen.
Einen weiteren Aspekt hebt der Deutsche Ethikrat hervor. Solidarität habe „ein Grundgefühl von Zusammengehörigkeit oder wenigstens gemeinsamer Betroffenheit in einer Gefährdungssituation“ zur Voraussetzung. Große Krisen erzeugen ein Kollektivbewusstsein, getreu dem Motto: „Wir sitzen gemeinsam in einem Boot.“ Aus der faktischen Verbundenheit erwächst der moralische Impuls, sich wechselseitig zu helfen. Während die Barmherzigkeit den Handlungsmodus des Gebens zur Konsequenz hat, geht es der Solidarität um die gemeinsame Handlungsfähigkeit, um die gegenseitige Hilfe im Krisenfall. Praktiken der Solidarität sind so etwas wie ein gemeinsamer Kraftakt. Wir verlangen uns dabei selbst viel ab, wir trauen einander aber auch viel zu. Gemeinsam solidarisch zu sein, lässt uns nicht selten über uns selbst hinauswachsen und in diesem Sinne erwachsen zu werden.
Jeder für sich selbst?
Auf einen dritten Gesichtspunkt macht Frank-Walter Steinmeier aufmerksam: „Die Pandemie zeigt uns: Ja, wir sind verwundbar. Vielleicht haben wir zu lange geglaubt, dass wir unverwundbar sind“, so der Bundespräsident in seiner Ansprache am Ostersamstag. Wer verwundbar ist, hat Angst, Gefahren schutzlos ausgeliefert zu sein. Rückzug und Abschottung sind dann ganz natürliche Reflexe. Doch auch die Angst kann ansteckend sein: Ellbogen raus, hamstern, ego first. Man will das eigene Leben schützen, jeder kämpft für sich selbst. Auf der staatlichen Ebene wird das ego first zum germany first: man macht die Grenzen dicht. Entsolidarisierung hilft aber nicht weiter. Die Angst vor Gefahren ernst zu nehmen, sich aber davon nicht überwältigen zu lassen, markiert den Übergang zur Solidarität. Das Entscheidende dabei ist: Wir entdecken Handlungsmöglichkeiten. Wir machen die Erfahrung, dass ein solidarisches Leben unsere Resilienz und Widerstandskraft stärkt. „Allein gehen wir unter. Keiner kann sich alleine retten“, so Papst Franziskus.
Einem Feuer, das ausbricht, bin ich alleine nicht gewachsen. Deswegen ist es gut, wenn es eine von Bürgern freiwillig getragene oder von der öffentlichen Hand finanzierte Feuerwehr gibt, die im Notfall hilft. In vorindustrieller Zeit wurden Risiken und Gefahren durch lebensweltliche Solidaritätsquellen, durch die Netzwerke der Familien, Nachbarschaften und Dorfgemeinschaften, abgefedert. In Folge der Industrialisierung entstanden die modernen (bis heute meist national begrenzten) Solidarsysteme, die ihre Mitglieder bei der Bewältigung der großen Lebensrisiken wie Altersarmut, Krankheit und Pflegebedürftigkeit unterstützen, ohne einander persönlich zu kennen. Zu beachten ist: Die solidarische Beistandspflicht ist nicht einfach selbstlos. Sie ist in Form eines Lastenausgleichs gestaltet. Wer solidarisch ist, hilft und unterstützt andere, er geht aber auch davon aus, dass ihm selbst geholfen wird, wenn er Unterstützung benötigt. Die Wechselseitigkeit von Beitrag und Hilfeanspruch ist durch einen Erwartungswert verknüpft, der in die Zukunft reicht. Auch wenn eine Person jetzt gesund, jung und leistungsfähig ist, liegt ein „langer Schatten der Zukunft“ über seinem Lebensweg: auch er kann von den Lebensrisiken Krankheit, Armut und Pflegebedürftigkeit betroffen und auf Hilfe angewiesen sein.
Solidarisch versus ökonomisch effizient
Der Aufruf zu Solidarität ist kein idealistischer, realitätsferner Appell. Solidarisch zu sein, ist die erfolgreichere Strategie, um gemeinsam zu überleben. Diese Erkenntnis widerspricht dem zentralen Dogma des Neoliberalismus: „Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht.“ Die aktuelle Pandemie offenbart die Fragilität dieses Denkens. Auch in unseren Verbänden müssen wir uns kritisch hinterfragen. Ist es richtig, wenn sich ein DJK-Sportverein mit einem Fitnessstudio vergleicht und vor allem darauf erpicht ist, seinen Kunden gute Qualität zu liefern? Vor solchen Fragestellungen stehen die Sozialverbände schon lange. Aber auch einige der pastoralen Strategien, die derzeit in den Ordinariaten ersonnen werden, atmen den Geist einer ökonomischen Logik: Experten (Pfarrer, Seelsorger, Theologen) kreieren Angebote für die religiösen Bedürfnisse von Kunden. Kirche wird auf eine Kirche der bezahlten Profis reduziert, die eine Leistung erbringen. Die Charismenorientierung und das Leitbild des Volkes Gottes beruhen demgegenüber auf einer der Solidarität verwandten Logik: „Alle sind mit ihren jeweiligen Charismen berufen, gemeinsam Kirche zu sein.“ Die Vorstellung, eine Glaubensgemeinschaft zu sein, ist für ein modernes Verständnis von Solidarität nicht unbedeutend. Der Philosoph Jürgen Habermas versteht seine Diskursethik explizit als eine Aneignung der Idee, „dass alle Gläubigen eine universale und doch geschwisterliche Gemeinde bilden und dass jedes einzelne Mitglied unter Berücksichtigung seiner unvertretbaren und unverwechselbaren Individualität eine gerechte Behandlung verdient“.
In meinen Augen fehlt es in der kirchlichen Praxis derzeit nicht an „Werken der Barmherzigkeit“, sondern an solidarischen Praktiken, an Praktiken, in denen wir gemeinsam handeln (und glauben). Sich an Zeiten zu erinnern, in denen der Solidarismus, nicht zuletzt der katholische Solidarismus großen Einfluss hatte, hilft. Ende der 1920er Jahre wurden viele kirchliche Bau- und Wohnungsgenossenschaften gegründet – eine Praxis, die über das Anliegen, „Bedürftige“ mit Wohnungen zu versorgen, hinausgeht. Wer Mitglied in einer Genossenschaft ist, ist nicht einfach bloß Hilfeempfänger. Er ist Miteigentümer an einem Common. Durch das gemeinsame Handeln ist der einzelne Genosse den unbarmherzigen Gesetzen des Marktes nicht mehr hilflos ausgeliefert.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde diese Tradition mit der Gründung von kirchlichen Siedlungswerken aufgegriffen. Dass es sich hier um „solidarische Ökonomien“ handelt, ist weitgehend in Vergessenheit geraten. Es wäre an der Zeit, das gemeinsame, solidarische Handeln wieder zu entdecken. Soziologen sprechen hier von einem „solidarischen Experimentalismus“. Dies ist ganz im Sinne von Papst Franziskus. In einem Artikel in der spanischen Zeitschrift „Vida Nueva“ fordert er dazu auf, „Antikörper der Solidarität“ zu entwickeln, um die üblen Folgen der Pandemie abzufedern. Mit Fatalismus sei jetzt nicht gedient, stattdessen solle sich jeder als „Handwerker und Protagonist einer gemeinsamen Geschichte“ fühlen und entsprechend agieren.
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