Menschliche Beziehungen leben von Begegnung und vertrauensvollen Gesprächen. Das gilt auch für die Gottesbeziehung. Das Gebet, in welchem wir auf Gottes Zuspruch antworten und unser Leben vor Gott zur Sprache bringen, ist darum für unseren Glauben zentral. Wie könnten wir Gott nahekommen, ohne zu ihm zu sprechen?
Das Beten zu Gott kennt viele Formen: Dank, Lobpreis, Anbetung, Klage oder auch Bitte. Dabei ist das Bittgebet das wichtigste. In der biblischen Überlieferung werden wir hauptsächlich zum bittenden Gebet aufgefordert und Jesu Gebetsunterweisung ist vor allem auf das Bitten ausgerichtet (Mt, 6,9–13; Lk 11,2–4; 18,1–8) – das Vaterunser ist ein reines Bittgebet. Genau betrachtet liegt das bittende Beten allen anderen Gebetsformen zugrunde. Das Wort Gebet stammt nicht von Beten ab, wie man irrtümlich annehmen könnte, sondern von Gebettel; es ist zuallererst Gebitte, ein Gestammel von Anliegen.
In der Bitte drückt sich eine viel tiefere Beziehung aus als im bloßen Danken, Loben, Preisen oder Anbeten. Denn in der Bitte gestehen wir unsere eigene Bedürftigkeit ein und liefern wir uns der Bereitschaft des Anderen aus. Dank zu sagen fällt leicht, den Anderen aber um einen Gefallen zu bitten fällt schwer, weil das Bitten Vertrauen voraussetzt und vom Wohlwollen des Anderen abhängig macht. Darum trifft es uns, wenn unsere Bitte ausgeschlagen wird.
Droht der Gebetskollaps?
Das Beten fällt heute schwer, manche sprechen sogar von einem völligen Gebetskollaps. Das Gebet, insbesondere das Bittgebet, scheint zur Leerformel zu werden. „Ruf mich an am Tage der Not; dann rette ich dich und du wirst mich ehren“ (Ps 50,15). Sieht die Erfahrung nicht oft anders aus? Offensichtlich dringen unsere Bitten nur selten zu Gott durch, da er weder antwortet noch handelt, ja teils sogar das Gegenteil dessen geschieht, worum wir bitten und flehen. Bedrückend ist die Erfahrung, dass unser Gott-Bitten nur allzu oft vergeblich geschieht.
Haben unsere unzähligen Friedensgebete die Welt friedvoller gemacht? Konnten die Gebete um geistliche Berufe – „Bittet den Herrn der Ernte, Arbeiter in seine Ernte auszusenden“ (Mt 9, 38) – den grassierenden Priestermangel eindämmen? Klammheimlich drängt sich der Verdacht auf, das Gott-Bitten sei vergeblich und sinnlos. Diese Befürchtung kann nicht einfach wegspiritualisiert oder schöngeredet werden – das Bittgebet sitzt quasi auf der Anklagebank. Dabei lassen sich die Anklagepunkte leicht erweitern: Wenn Gott die Liebe ist, weshalb muss er dann eigens gebeten werden? Müsste sich der liebende, gütige und barmherzige Gott nicht immer zum Wohl der Menschen einsetzen, ob er darum gebeten wird oder nicht? Was soll das für eine Liebe sein, die nur auf ausdrückliches Bitten hin aktiv wird? In der Freiwilligkeit und Freigiebigkeit zeigt sich doch die wahre Liebe!
Damit nicht genug: Welchen Sinn soll das Bittgebet haben, wenn Gott in seiner Vorsehung doch schon alles vorherbestimmt hat? Kennt er nicht immer schon unsere Bedürfnisse und Wünsche? „Euer Vater weiß, was ihr braucht, noch ehe ihr ihn bittet“ (Mt 6,8). Er muss also über unsere Not nicht eigens informiert oder belehrt werden. Noch ein Letztes: Wenn Gott die Liebe ist, warum bitten wir ihn dann um sein Erbarmen? Ist das „Kyrie eleison“ etwa Ausdruck unseres Zweifelns an der Güte und Barmherzigkeit Gottes? Drückt sich in unseren Bittgebeten und Gebetsanrufungen nicht allzu oft ein Gottesbild aus, das Gott mehr vergeltend als gütig zeichnet, so, als ob er gnädig gestimmt werden müsste?
Grundverständnis des Betens
Die aufgeworfenen Fragen sind wahrlich nicht einfach zu beantworten. Wichtig ist zunächst ein Grundverständnis vom (Bitt)Gebet. Was geschieht eigentlich, wenn wir Gott bitten? Wir dürfen das Bitten zwischen Menschen nicht einfach auf Gott übertragen. Denn weder ist Gott Person, noch steht er uns wie eine menschliche Person gegenüber, vielmehr ist er, wie Augustinus tiefsinnig bemerkte, innerlicher als wir uns selbst. So betrachtet sind nicht wir es, die Bitten an Gott richten. Nach biblischem Zeugnis ist es der Geist Gottes, der in uns betet, noch bevor wir zu beten beginnen: „So nimmt sich auch der Geist unserer Schwachheit an. Denn wir wissen nicht, worum wir in rechter Weise beten sollen; der Geist selber tritt jedoch für uns ein mit Seufzen, das wir nicht in Worte fassen können“ (Röm 8,26f). Ähnlich heißt es bei Jesaja: „Ehe sie rufen, antworte ich, während sie noch reden, höre ich sie“ (Jes 65,24). Genau genommen ist Gott selbst das Subjekt unseres Betens. Es ist Gottes Geist, der uns im Gebet auf den Grund unseres Seins hin öffnet, um uns so mit dem Göttlichen ekstatisch zu vereinen. Unsere Wünsche und Hoffnungen werden in die Gegenwart des göttlichen Geistes zu Gott erhoben. Kraft Gottes Geist wenden wir uns an Gott, der immer schon in uns und zugleich außerhalb von uns ist. Nirgendwo anders als im Bittgebet kommt die innere Präsenz des lebendigen Gottes so deutlich zum Tragen.
Paulus ist überzeugt, dass Christus im Glaubenden lebt: „In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir“ (Apg 17,28). Auch für Johannes steht die göttliche Allgegenwart außer Zweifel: „Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm“ (1 Joh 4,16). Wenn wir beten, sprechen wir nicht zu jemandem, der uns gegenübersteht, weil Gott unserem Ich näher ist als unser Ich sich selbst. Das Gebet ist folglich ein Ereignis des Sich-Versenkens in den in uns immer schon anwesenden Gott. In diesem Sinne beten wir nicht zu Gott, vielmehr ist Gott jene Wirklichkeit, in der wir beten. Aus der Gegenwart Gottes in uns folgt die Gewissheit, dass er schon vorab weiß, wessen wir bedürfen (Mt 6,8), er in uns spricht und er unser Beten und Bitten hört und erhört (Lk 11,5–8; 18,1–8), selbst wenn Ereignisse folgen, die dem konkreten Inhalt des Gebets widersprechen. Ausgehend von Gott als dem eigentlichen Subjekt unseres Betens, ist ein unerhörtes Bittgebet im Grunde undenkbar, ist es doch Gottes Geist, der dieses Gebet erst ermöglicht und trägt.
Erhörung ist wichtiger als Erfüllung.
„Wir können es ertragen, abgewiesen zu werden, nicht aber missachtet. Mit anderen Worten, unser Vertrauen kann viele abschlägige Antworten überleben, solange es Antworten sind und nicht bloß Rücksichtslosigkeiten.“ – ein Zitat von Clive Staples Lewis. Wir wollen also in erster Linie mit unseren Anliegen gehört und ernst genommen werden, nachgeordnet ist dagegen, ob unsere Bitten erfüllt, abgeändert oder ganz ausgeschlagen werden. Als erhört hat eine Bitte zu gelten, wenn es zu einer wechselseitigen Aufmerksamkeit und Besorgtheit kommt. Jede ernst genommene Bitte intensiviert eine Beziehung; sie führt zu einer Intimität, weshalb eine erhörte Bitte keinesfalls wirkungslos bleibt und, selbst wenn sie ausgeschlagen wird, alles andere als sinnlos ist.
Können unsere Bitten, die Gottes Geist in uns wachruft, Gott wirklich umstimmen? Das bittende Gebet nimmt keinen Einfluss auf die Güte oder den Willen Gottes, sondern vertieft die Überzeugung des Betenden, mit Gott, dem Geber aller guten Gaben, in einer lebendigen Beziehung zu stehen. Erst indem wir unsere persönliche Abhängigkeit von Gott anerkennen, kann Gott uns geben, was er uns immer schon zu geben beabsichtigte, er aber ohne unsere Empfänglichkeit nicht hätte geben können. Zudem verändert sich durch die Gabe Gottes die Grundbefindlichkeit und Handlungsmöglichkeit des Bittenden, was wiederum ohne das Bittgebet nicht möglich gewesen wäre. Unser Bittgebet ist somit weder wirkungslos noch sinnlos. Für Martin Luther sind betende Menschen gleichsam Assistenten oder Mitarbeiter Gottes. Gott möchte unser Bitten, damit wir für seine Gaben offen und empfänglich werden und so Gottes Liebeswille durch uns wirken kann.
Titelbild: Watercolor_concept / Adobe stock