Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: März-April 2021

Schwerpunkt

„Es war wie in einem Alptraum“

Foto: Pat Christ

Sie dürfe jetzt keine Zeit verlieren, müsse sofort weg. „Geh zu deinem Onkel!“, sagte die Frau im Telefon. Der Geheimdienst sei hinter ihr her. Yasemin Z. (Name geändert) legte auf. „Mein Kind ist krank, ich muss unbedingt nach Hause“, sagte sie zur Schuldirektorin, ihrer Chefin. Daraufhin durfte sie gehen. Doch sie ging nicht heim. Sondern zu ihrem Onkel – wo die 35-jährige Irakerin weitere Anweisungen erhielt: In den Norden Iraks sollte sie fliehen. Ihr Haus sah sie nie mehr. Das war im Sommer 1996.

Yasemin kam als Tochter einer aramäischen Familie im Irak auf die Welt. Lange konnte sie vergleichsweise normal als Christin leben. Yasemin studierte und wurde Mathematiklehrerin in einem staatlichen Mädchengymnasium. „Irgendwann begann ich, auf der Arbeit den Hass von Muslimen gegen uns Christen zu spüren“, sagt sie. Immer stärker war ihre Familie betroffen. Wegen der Religion. Aber auch, wie Yasemin sagt, wegen politischer Einstellungen: „Man kann das kaum trennen.“ Es kam zur Hinrichtung des Schwagers: „Ab da wurden wir richtig verfolgt.“ Immer respektloser sei sie behandelt worden: „Es hieß, wir sollten weg, weil wir Christen sind.“

Noch hatte sie es sich nicht vorstellen können, allem Ade zu sagen, was für sie „Heimat“ bedeutete: Die Familie. Das eigene Haus. Die Stelle im Gymnasium. Die christliche Gemeinde im Irak, wo sie zum Gottesdienst ging. „Zu gehen, das war wirklich eine sehr schwere Entscheidung“, sagt sie, die heute in der Diözese Würzburg lebt. Letztlich wurde ihr die Entscheidung aus der Hand genommen. Der Geheimdienst nahm Yasemins Mann fest. Und war auch hinter ihr her. Yasemin fügte sich deshalb sofort den Anweisungen, die sie telefonisch erhalten hatte.

Am Telefon war vereinbart worden, dass sie zusammen mit ihrem Onkel in den Norden des Landes fliehen sollte. In Kirkuk warteten beide auf Yasemins Vater. Der kam auch bald: „Und er hatte unsere Papiere retten können.“ Weiter ging es nach Erbil. Wo sich die Familie trennte. Ganz alleine musste Yasemin in die Türkei weiterreisen. Dort hatte der Vater Bekannte. Eine christliche Familie nahm sie auf. Mehr als ein halbes Jahr lang lebte Yasemin in ständiger Sorge: Waren ihr Mann und die Tochter noch am Leben? Beide schafften es schließlich ebenfalls, zu entkommen. Die Familie floh nach Deutschland, wo Yasemin heute wieder in einer Schule arbeitet.

Die Erinnerung bleibt

Wie blitzschnell sich ihr Leben damals verändert hatte! So lange ist alles inzwischen her. Und dennoch sieht Yasemin die einzelnen Situationen noch ganz genau vor sich. Sie sieht sich, wie sie den Hörer im Sekretariat der Schule in die Hand nimmt: „Männer durften in einer Mädchenschule nicht anrufen, deshalb hatte mein Vater eine Frau beauftragt, mir auszurichten, dass ich nicht nach Hause kommen durfte.“ Yasemin hat bis heute die Stimme der Frau im Ohr: „Sagen Sie jetzt nichts, hören Sie mir einfach nur zu.“ Alles war ihr wie ein Traum erschienen. Ein Alptraum.

Es blieb überhaupt keine Zeit, um lange hin und her zu überlegen. Zaudern hätte Yasemin womöglich mit dem Leben bezahlt. So tat sie unter enormer psychischer Anspannung, was nötig war, um ihr Leben zu retten. Rein theoretisch, meint Yasemin, hätte es eine Alternative gegeben: Sie hätte Muslimin werden können: „Doch das wäre für mich nie, nie in Frage gekommen!“ Entsprechende Ansinnen hatte sie stets zurückgewiesen: „Es gab Männer, die mich, hätte ich die Religion gewechselt, geheiratet hätten.“ Doch Yasemin ist überzeugte Christin. Außerdem lehnt sie das Frauenbild im Islam rigoros ab: „Frauen sind im Islam nur für den Mann da.“

Frauenbilder

Frauenverachtung ist in Yasemins Augen charakteristisch für die muslimische Religion. Die Christin weiß zwar, dass es im Islam verschiedene Strömungen gibt. Und dass der Koran so oder so ausgelegt werden kann. Doch was sie im Irak erlebt hat, sitzt tief. Ihr sei mit Vergewaltigung gedroht worden, erzählt sie. Auch habe sie große Angst gehabt, dass man sich an ihrer Tochter vergehen würde: „Ein Muslim sagte mir einmal, dass die Männer vom Geheimdienst solche Mädchen wie meine kleine Tochter sehr gern mögen.“ Das habe sie unter Druck gesetzt. Allein deswegen hätte sie früher oder später fliehen müssen.

Auch wenn es sie furchtbar getroffen hat, dass sie alles, was sie besaß, zurücklassen musste, ist Yasemin glücklich, nun in Deutschland leben zu dürfen: „Hier kann ich immer in den Gottesdienst gehen, wann ich möchte.“ Ohne, dass sie sich fürchten müsste. Ganz besonders schätzt sie das tolerante Miteinander dort, wo sie jetzt wohnt: „Niemand fragt im Alltag, ob man muslimisch, christlich oder jüdisch ist.“

Natürlich gibt es auch in Deutschland diverse Probleme wegen des gesellschaftlichen Multikulti, weiß Yasemin: „Kein Land ist perfekt.“ Doch das alles sei nichts im Vergleich zu jener Intoleranz, die sie in ihrem Geburtsland erlebt habe. Wo man ihr ganz klar zu verstehen gegeben hatte: „Als Christin hast du hier nichts verloren.“


Titelfoto: In vielen Ländern ist ein friedliches Miteinander der Religionen bis heute unmöglich.


Verfasst von:

Pat Christ

Freie Autorin