Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: März-April 2021

Kommentar

Von Tauben und Menschen

Foto: privat

Die Sache mit den Tauben hat mich schon als Schüler nachdenklich gemacht: Der US-amerikanische Psychologe Burrhus Frederic Skinner setzte im Jahr 1947 mehrere Tauben einzeln in Käfige, in die alle 15 Sekunden ein paar Körner fielen. Egal, was eine Taube tat, sie bekam automatisch Futter. Nach einiger Zeit verhielten sich viele der Tauben merkwürdig: Die einen verrenkten ständig den Kopf, andere tänzelten auf der Stelle, wieder andere spreizten einen Flügel. Warum die Vögel das taten? Sie nahmen an, dass sie selbst durch ihre – zunächst rein zufällige – Bewegung die Gabe der Körner auslösen würden. Dass das eigene Verhalten de facto egal ist, damit fanden sich die Tiere nicht ab. Gerade weil sie so intelligent sind, zeigten sie in Skinners Experiment jenes Verhalten, das auch oft als „Aberglaube bei Tauben“ bezeichnet wird.

Menschen sind nicht weniger intelligent. Sie sind auch ziemlich gut darin, Muster und Strukturen zu erkennen. Das hilft enorm, um sich in der Welt zurechtzufinden. Was Menschen aber – ähnlich wie die Tauben – weniger gut können, ist Unsicherheit auszuhalten und mit Ohnmacht umzugehen. Manchmal entdecken sie deshalb sogar dort Zusammenhänge, wo es gar keine gibt. Das ist dann Aberglaube, also ein falsches Verständnis des Zusammenhangs von Ursache und Wirkung.

Es geschehen eben Tag für Tag eine Menge Dinge schlicht zufällig oder ohne dass wir Einfluss darauf hätten. Ob es das Wetter schön wird, ob die richtige Prüfungsfrage gestellt wird, wir gesund oder krank werden – wir haben es letztlich nicht in der Hand. Weil so eine banale Erklärung aber in jedem Film langweilig und im echten Leben irgendwie enttäuschend ist, lassen sich auch hier Zusammenhänge bauen: Immer wenn ich einen Schirm mitnehme…; wenn ich meinen Talismann in der Tasche habe…; wenn ich täglich joggen gehe… So ein bisschen Aberglaube hilft manch einem Zeitgenossen, aufrecht durch die ungewissen Strömungen auf dem Ozean des Lebens zu navigieren. Auch religiöse Rituale lassen sich natürlich für den Aberglauben nutzen: Wenn man etwa glaubt, durch ein besonders langes Abendgebet Gott gnädig zu stimmen oder durch einen Gottesdienstbesuch die Chancen aufs Lebensglück zu erhöhen.

Dabei sind religiöser Glaube und seine Traditionen nicht dafür da, sich in unsicheren Situationen in scheinbar sichere Kulissen zu flüchten oder sich die Welt schönzuträumen. Der tschechische Philosoph Tomáš Halík hat es so formuliert: Glaube ist die Kunst, mit dem Geheimnis und den Paradoxien des Lebens zu leben. Mit anderen Worten: Glauben hilft nicht, das Leben sicherer zu machen, er hilft auszuhalten, dass es unsicher ist. Denn Glauben ist nicht die Zustimmung zu bestimmten Sätzen eines Bekenntnisses, sondern die Fähigkeit, sich von Zeit zu Zeit die eigene Machtlosigkeit eingestehen und – trotz guter Gegenargumente – mit dem Guten rechnen zu können.

Eine wirkungsvolle Aberglaubens-Prophylaxe steckt deshalb im Gebet von Reinhold Niebuhr: Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen unterscheiden.


Verfasst von:

Bernhard Spielberg

Professor für Pastoraltheologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg