Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: März-April 2022

Schwerpunkt

Die Wartehalle vor dem Altenheim

Draußen tobt das Leben, man selbst fühlt sich wie hinter einer dicken Glasscheibe. Ausgeschlossen. Alleine. – so beschreiben Betroffene ihre Einsamkeit.

Dass in modernen Gesellschaften immer mehr Menschen vereinsamen, ist eine beliebte Verfallsdiagnose. Sie wird oft mit dem Verlust traditionaler Bindungen begründet: Die Menschen werden älter, lassen sich häufiger scheiden, haben weniger Kinder und leben häufiger allein. Die panische Vorstellung von einer „Einsamkeitsepidemie“ in westlichen Gesellschaften basiert jedoch auf wackeligen Prämissen. Dessen ungeachtet ist Vereinsamung eines der größten gesellschaftlichen Probleme der Gegenwart.

Die Diagnose von der Einsamkeit moderner Gesellschaften basiert vor allem auf der verzerrten Wahrnehmung relevanter historischer Vergleichszeiträume. Eine kurze Überlegung zur Verbreitung von Vereinsamungserfahrungen im 19. Jahrhundert kann diesen Umstand illustrieren: Historische Studien stellen fest, dass sich die sprachliche Deutung der Einsamkeit als subjektiv empfundenes Mangelgefühl in Europa ebenfalls im 19. Jahrhundert durchsetzt. Im Deutschen drückt sich dies etwa in Popularisierung von Worten wie ‚mutterseelenallein‘ aus. Die negative Deutung von Einsamkeitserfahrungen wurde demnach gerade in der Zeit dominant, in der kinderreiche Familien und dichte, lokal verfügbare Verwandtschaftsnetzwerke im historischen Vergleich besonders üblich waren. Auf deren Schwinden wird die Zunahme der Vereinsamung heute ursächlich zurückgeführt. Das ist bei genauer Betrachtung wenig überraschend: Das 19. Jahrhundert war voller Kräfte, die Einsamkeit verursachen. Soziale Stressoren waren allgegenwärtig: Die Wohnsituationen waren bedrängt, chronischer Nahrungsmittelmangel war typisch, häusliche Gewalt war üblich und die Sterblichkeit durch Krankheiten hoch. Die demographische Expansion fraß im 19. Jahrhundert fast überall die Produktivitäts- und Wohlstandsgewinne, die durch die Industrialisierung erzielt werden konnten. Viele Menschen verwaisten zudem im Kindesalter, hatten demnach früh im Leben den Verlust primärer Bindungspersonen zu verarbeiten. Hierzu heißt es in einem Fachwerk des Hamburger Katecheten Johann Christoph Kröger: „Ohne Eltern und Freunde, einsam und allein, nicht geliebt, sondern höchstens geduldet, oft verstoßen von einer Ecke zur andern, gleichen die Schuldlosen oft schon bei ihrer Geburt den Schiffsbrüchigen, die ein Sturmwind, nackt und bloß, auf fremde, dürre Erde verschlagen“. Befunde wie dieser zeigen an, dass nur wenig dafür spricht, dass die „traditionale“ Gesellschaft weniger einsam war als die heutige.

Mehr Akzeptanz von Vielfalt

Liberale Gegenwartsgesellschaften erzeugen jedoch nicht nur weniger elementare soziale Stressoren, wie intime Gewalt und Hunger. Sie sind toleranter. Und auch das hat Vorteile mit Blick auf die Frage der Einsamkeit. Einsamkeitsgefühle werden unter anderem durch internalisierte Ablehnungserfahrungen hervorgerufen. Das Gefühl, nicht liebenswert zu sein, setzt sich fest und wird auf die Mitwelt projiziert. Die Entstigmatisierung von religiöser Zugehörigkeit, sexueller Orientierung, Ethnizität, psychischen und körperlichen Erkrankungen und vielen anderen Merkmalen, die als Diskriminierungsgründe genutzt werden, wirkt dem Prozess der Verinnerlichung von Ablehnung entgegen. Die Akzeptanz von Vielfalt beugt daher tendenziell Vereinsamung vor. Auch die fortschreitende Gleichstellung von Mann und Frau ist mit Blick auf die Einsamkeit aus ähnlichen Gründen positiv zu sehen. Das zumindest untermauern international vergleichende Statistiken, die zeigen: Je geringer die Geschlechterungleichheit ist, umso seltener fühlen sich die Menschen in einer Gesellschaft einsam.

Einsamkeit als tabuisiertes Privatproblem

Dass es keine stichhaltigen Gründe gibt, um von einer „Einsamkeitsepidemie“ in modernen Gegenwartsgesellschaften auszugehen, ist jedoch kein Grund, Vereinsamung als gesellschaftliches Problem zu bagatellisieren. Daten des Sozioökonomischen Panels etwa zeigen an, dass circa zehn Prozent der deutschen Bevölkerung von regelmäßigen Einsamkeitserfahrungen akut betroffen sind. Die Gruppe der Einsamen ist nicht klein, wie die Zahlen auch gedreht und gewendet werden. Chronische, intensive Einsamkeitsempfindungen sind mit einer negativen Stress-Reaktion verbunden, deren Konsequenzen für die Betroffenen mehr als eine Unannehmlichkeit darstellen: Dauerhafte Vereinsamung hat gesundheitlich schwerwiegende Folgen wie etwa Schlafstörungen, Demenz, Depression und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die Lebenserwartung und Lebensqualität sinken empfindlich. Gleichzeitig werden Vereinsamungsprobleme häufig verborgen oder kleingeredet. Eine exemplarische Passage aus einem der Interviews, die ich in meinen Studien geführt habe, kann dies illustrieren: Dort äußerte sich ein 31-jähriger Mann über die Kommunikation von Einsamkeitsgefühlen wie folgt: „Aber das ist in unserer Gesellschaft zum Teil auch so tabuisiert. Gerade die Deutschen, und das mag jetzt vielleicht klischeehaft klingen, aber die Deutschen sind so verkopft, sind so voller Scham […] dass sie sich nicht trauen, über diese Dinge zu reden“. Die Interviews zeigen dabei an, dass Einsamkeitsklagen bei uns selbst innerhalb enger Bindungen eher vermieden werden. Ihre soziale Erwünschtheit ist niedrig. Gleichzeitig wird Vereinsamung als eine nahezu hermetische, ausweglose Lage thematisiert: Eine 28-jährige Frau etwa beschrieb Einsamkeit sehr plastisch als das „Ausgeschlossen-Gefühl“. Die Situation, die sie damit verband, war, hinter einer dicken Fensterscheibe zu stehen und draußen die Freunde spielen zu sehen, die sie nicht hören konnten und die sie nicht bemerkten. Die Beschreibungen von Einsamkeitserfahrungen werden bei uns zumeist mit einer Situation der Machtlosigkeit und der sozialen Degradierung in Zusammenhang gebracht. So etwa beschrieb eine 41-jährige Frau das Gefühl der Einsamkeit, „wie in einem Käfig zu sein“. Ein 56-jähriger Mann nannte die Einsamkeit „eine Wartehalle vor dem Altersheim“.

Politik gegen Einsamkeit

Insgesamt wird Vereinsamung sehr stark als ein Problem verstanden, dem die Einzelnen durch ihre eigenen Mittel wenig entgegenzusetzen haben, bei dem sie aber auch nicht auf Hilfe ihrer Mitwelt hoffen können. Diese Wahrnehmung entspricht dem Umstand, dass unterliegende Vereinsamungsproblematiken bisher selten frühzeitig im Gesundheits- und Sozialwesen erkannt werden. Aber selbst, wenn sie erkannt werden, so besteht allzu oft kein Rahmen, in dem sie aufgefangen und gemildert werden. Dies zu ändern, liegt zum einen in den Händen von Wohlfahrtsverbänden wie der Caritas, deren Angebote auf kommunaler Ebene die erste Anlaufstelle für vereinsamte Menschen darstellen, zum anderen in unserer aller Münder, denn die Vermeidung von Vereinsamung beginnt damit, dass wir über sie sprechen lernen.


Kröger, J. C. (1852): Die Waisenfrage. Die Erziehung verwaister und verlassener Kinder in Waisenhäusern und Privatpflege. Hamburg: Johan Friedrich Hammerich.

Titelbild: Annett Seidler/Adobe stock

Draußen tobt das Leben, man selbst fühlt sich wie hinter einer dicken Glasscheibe. Ausgeschlossen. Alleine. – so beschreiben Betroffene ihre Einsamkeit.


Verfasst von:

Janosch Schobin

Nachwuchsgruppenleiter an der Universität Kassel