Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: März-April 2022

Meditation

Im Nebel

Im Nebel

Seltsam, im Nebel zu wandern!
Einsam ist jeder Busch und Stein,
Kein Baum sieht den andern,
Jeder ist allein.

Voll von Freunden war mir die Welt,
Als noch mein Leben licht war,
Nun, da der Nebel fällt,
Ist keiner mehr sichtbar.

Wahrlich, keiner ist weise,
Der nicht das Dunkel kennt,
Das unentrinnbar und leise.
Von allen ihn trennt.

Seltsam, im Nebel zu wandern!
Leben ist Einsamsein.
Kein Mensch kennt den andern,
Jeder ist allein.

Hermann Hesse

Hermann Hesses Gedicht begleitet mich schon einige Jahre. Immer wieder kommt es mir in den Sinn, wenn sich – wie so oft in Regensburg – der Nebel über die Stadt und die Landschaft legt. Man kann dann vergeblich nach den Spitzen der Domtürme suchen, sie scheinen wie weggewischt zu sein.

Seltsam und einsam ist allerdings nicht nur die Stimmung in einer vom Nebel eingehüllten Natur, auch das dritte Jahr der Pandemie mutet (immer noch) seltsam an. Und einsam – das waren und sind in der Pandemie auch noch zu viele. Die Sehnsucht nach Gemeinschaft und Zusammenhalt ist groß, nach einem Miteinander und keinem Gegeneinander, nach Leben, das persönlich ist, fühlbar und greifbar. Ja es ist seltsam, im Nebel zu wandern, in dem jede und jeder allein zu sein scheint.

Hesses Gedicht, 1906 verfasst, lese ich wie eine Beschreibung unserer von der Pandemie und der sie begleitenden Einsamkeit geprägten Zeit, wenn es von der Unsicherheit spricht, die uns einhüllt, vom dicken und zähen Nebel der Verordnungen und Regeln, Mythen und Theorien, Zahlen und Statistiken, die bleiern auf unserer Gesellschaft lasten, sie vielleicht auch zu spalten drohen. Aussagen und Meinungen scheinen unversöhnlich nebeneinander zu stehen – »kein Baum sieht den andern, jeder ist allein«.

Dieses Alleinsein kann zur Einsamkeit führen, die der pandemische Nebel verstärkt hat, gerade für die Jüngsten und die Ältesten, die Schwachen und Kranken, in bedrückender Weise auch für die Sterbenden – »nun, da der Nebel fällt, ist keiner mehr sichtbar«.

All das wiegt umso schwerer, weil in uns die Erinnerung und die Sehnsucht an lichte Momente lebt, nach einer Welt voller Freundinnen und Freunde, nach Unbeschwertheit, nach dem Licht eines jeden Morgens, des Frühlings, der Hoffnung – nach einem Licht, damit wir wissen, was wohin gehört. Aber ist das Leben so einfach? Sind die Dinge besser, wenn wir sie klar und im Licht sehen? Der Nebel führt es vor Augen: Wo Licht ist, gibt es Dunkelheit. Wo wir uns Klarheit wünschen, sind wir von Komplexität umgeben – »wahrlich, keiner ist weise, der das Dunkel nicht kennt«.

Hesses Gedicht bleibt im Nebel, in der Einsamkeit und im Dunkel verhaftet. Doch wir erfahren es immer wieder anders: Nebel ist nicht von Dauer. Seine verunsichernde Kraft kommt an eine Grenze, wenn die Sonne ihn anhebt und ihr Licht durchbricht.

»Und Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht.
Und Gott sah, dass das Licht gut war.« (Gen 1, 3)


Verfasst von:

Hagen Horoba

Leiter des Informations- und Besucherzentrums DOMPLATZ 5 in Regenburg