Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: Juli-August 2022

Schwerpunkt

Glaube versetzt Berge?

Foto: Alexandra Hofstätter

Über den richtigen Umgang mit gesellschaftlichen Spannungen

Die Corona-Pandemie hat für starke gesellschaftliche Spannungen und tiefe Gräben zwischen Menschen gesorgt. Debatten um den richtigen Umgang mit dem Virus haben Familien entzweit, die Zusammenarbeit in Gremien erschwert, das Vertrauen in Staat, Medien und Kirche geschwächt. Diese Gräben wieder zuzuschütten, wird die große gesamtgesellschaftliche Herausforderung der kommenden Jahre sein. Was können wir als Christinnen und Christen tun, um sie zu bewältigen?

Der Theologe Axel Seegers berät seit 1997 als systemischer Berater Menschen zum Thema „Weltanschauungen“ im Erzbischöflichen Ordinariat München. Jede Woche melden sich Betroffene bei ihm, die Angehörige oder Freunde nicht mehr erreichen, weil sie mit dem Reichsbürgertum, Verschwörungstheorien oder Querdenkern sympathisieren und sie nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen. Auf der Seele brennen ihnen vor allem zwei Fragen: Wie kann es sein, dass die Person diesen Narrativen Glauben schenkt? Und: Wie kann ich als Kontaktperson damit umgehen? Seegers weiß: Wenn die Mutter plötzlich Inhalte aus ihrer Telegramgruppe weiterleitet, die die eigenen Kinder zu sogenannten „Schlafschafen“ degradieren, kann das zu starken Konflikten in der Familie führen.

Haringke Fugmann ist der Überzeugung, dass es wichtig ist, in solchen Situationen bei sich selbst zu beginnen und verweist auf die Bergpredigt: „Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht? “ (Mt 7,3) Der Landeskirchliche Beauftragte der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern für religiöse und geistige Strömungen hat dennoch die Befürchtung, dass diese Beziehungsarbeit ein schwieriger Prozess wird. „Vertrauen geht viel schneller zu Bruch, als es wachsen kann, und es gibt unzählige Ursachen dafür.“ Dazu gehören gefühlter oder realer Wortbruch, Zwang, Druck oder wenn eine Kommunikation gepflegt wird, die Macht bewusst einsetzt, um die eigene Position zu festigen. „Es braucht einen langen Atem, Verlässlichkeit in der Kommunikation, Achtung vor der individuellen Freiheit, Ehrlichkeit, Transparenz und einen integrativen Kommunikationsstil für eine nachhaltige Versöhnung.“ Das protestantische Verständnis von Buße dient ihm dabei als leitende Haltung. „Der Begriff ist zwar aus der Zeit gefallen, die Idee aber absolut zeitgemäß: Es geht um die Erkenntnis, dass wir in unserer eigenen Position fragil sind, dass unsere Perspektive eine endliche ist, dass wir immer noch dazulernen müssen, weil wir damit rechnen müssen, dass wir den letzten Schuss Wahrheit nicht haben.“

Vielfalt aushalten lernen

Martin Becher ist Geschäftsführer des Bayerischen Bündnisses für Toleranz. Für ihn braucht es zur Konfliktbewältigung vor allem zwei Schlüsselkompetenzen: zum einen Ambiguitätstoleranz, also die Fähigkeit, die Pluralität unserer Welt zu ertragen und nicht sofort abzulehnen. Auf der anderen Seite müssen wir irritierbar bleiben, also bei Dingen, die unserem eigenen Weltbild widersprechen, noch gesprächsbereit bleiben. Diese Grundhaltung für ein Gespräch lässt sich für ihn am wenigsten über das konfliktträchtige Thema herstellen, sondern am ehesten über das, das die Beziehung zuvor charakterisiert hat: die gemeinsame Tätigkeit im Kirchengemeinderat, die Feuerwehr, der Sportverein, die Familienzugehörigkeit. „Ich glaube, ideologisch gibt es nur dann einen Weg zurück, wenn die Beziehung passt. Und Sie werden es nicht schaffen, die Beziehung wieder herzustellen, indem Sie die Ideologie auflösen, sondern Sie können nur über die Ideologie reden, wenn die Beziehung tragfähig ist. Und die Beziehung tragfähig machen können Sie nur, indem Sie über etwas anderes reden – über das, was Sie wirklich verbindet.“ Erst dann können beide Seiten zu dem Punkt kommen, zu reflektieren, einzulenken oder Zweifel zu äußern. „Mir ist klar, wie schwierig das ist, und ich kenne auch Fälle, in denen Menschen die Beziehung zu ihren eigenen Eltern abgebrochen haben, das ist wirklich schlimm.“

Solche Situationen kennt auch Axel Seegers: „Gegebenenfalls muss man auch Trauerarbeit leisten, sich verabschieden, weil man merkt, ich komme an diesen Menschen nicht mehr heran. Die Hoffnung stirbt zuletzt, vielleicht irgendwann mal wieder, aber kurzfristig oder mittelfristig ist das nicht möglich.“ Dann kann seine Beratung auch dafür Sorge tragen, dass niemand psychosozial auf der Strecke bleibt. Inhaltliche Diskussionen bringen seiner Meinung nach auch deshalb häufig wenig, weil Verschwörungsideologien selbstabgeschlossen sind und Menschen, die an das Narrativ glauben, jede Form von Kritik als Indiz dafür betrachten, dass das Gegenüber selbst Teil der Verschwörung sein könnte. Er hofft auf Begegnung. „Das heißt: Ich sage etwas, der andere hört zu, geht darauf ein und wir sind beide bereit, unsere eigene Position in Frage zu stellen, um gegebenenfalls weiterzukommen – möglichst gemeinsam. Das würde ich mir wünschen.“

Als Kirche Verantwortung übernehmen

Dass wir nicht mehr nur über die Interpretation von Fakten diskutieren, sondern auch über die Fakten selbst beziehungsweise sogenannte alternative Fakten, erschwert das Gespräch zusätzlich. Eine gemeinsame Wertebasis, eine gemeinsame ethisch moralische Grundlage gibt es in dem Sinn nicht mehr, Ziel muss also sein, zumindest einen Modus zu finden, in dem man miteinander zurechtkommen und leben kann. „Beide Seiten können sich treffen, wenn man sich zumindest auf formale Formen des Miteinanders einigen kann. Dafür brauchen wir Recht und Gesetz.“ Denn wo man sich einig ist, wo man gleiche Werte, gleiche Normen, gleiche Einstellungen hat, da braucht es keine rechtlichen Regelungen. Recht brauchen wir immer da, wo es unterschiedliche Sichtweisen, Interessen und Vorgehensweisen gibt, um dort zu klären und zu ordnen. Für besonders problematisch hält er es, dass es bisher keine offiziellen kirchlichen Regelungen für den Umgang mit Verschwörungstheorien gibt: „Ich würde mir wünschen, dass wahrgenommen wird, dass wir als Institution eine Verantwortung, eine Fürsorgepflicht haben, und das heißt, dass es rote Linien geben muss, wenn es zum Beispiel darum geht, welche Veranstaltungen wir durchführen. Für entsprechende Kriterien braucht es dann auch die inhaltliche Auseinandersetzung und das passiert mir noch deutlich zu wenig.“ Im Bereich östliche Philosophien und Religionen gebe es bereits Richtlinien für die Diözese, gleiches wünsche er sich aber auch zu den Themen Rechtspopulismus/Rechtsextremismus oder Verschwörungstheorien.

Wie viele Leute sich in Zukunft auf eine aktive Versöhnungsarbeit einlassen werden, wird sich in den nächsten Jahren zeigen. Haringke Fugmann sieht aber die Tendenz, dass viele Menschen das Thema leid sind und lieber zur Tagesordnung übergehen wollen. So komme es nicht zu einer Versöhnung, sondern lediglich zu einem nebeneinanderher Leben ohne Berührungspunkte, was zu einer Zersplitterung der Gesellschaft führen könnte. Deshalb sollte sich seiner Meinung nach jeder selbst fragen: Bin ich als einzelne Bürgerin und einzelner Bürger bereit, mich mit einer Haltung der Offenheit und Selbstkritik bei allen Themen, die mir wichtig sind und zu denen ich mit Überzeugungen stehen kann, auf ein Gespräch einzulassen? Die Antwort wird für uns alle von großer Bedeutung sein.

Weitere Infos:

www.weltanschauungsfragen.de – hier gibt es umfangreiche Informationen und Handreichungen zum Download vom Fachbereich Weltanschauungsfragen des Erzbischöflichen Ordinariats München

www.abenteuer-weltanschauungen.de – die Comicreihe „Abenteuer Weltanschauungen“ des Evangelisch-Lutherischen Dekanatsbezirks München für Jugendliche, gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

In fast allen Bistümern und auch auf den unterschiedlichen Ebenen der evangelischen Kirche gibt es Beratungsstellen, die bei Fragen und Unsicherheiten rund um Sekten- und Weltanschauungsfragen weiterhelfen können. Unter diesem Link sind sie zusammengestellt.


Verfasst von:

Sarah Weiß

Freie Autorin