Ausgabe: Juli-August 2022
SchwerpunktZwischen Stagnation und Innovation
Anfragen an das kirchliche Selbstverständnis in Folge der Pandemie
Fast 30 Monate sind vergangen, seitdem die Corona-Pandemie ganz Deutschland in Form des ersten Lockdowns einholte. Im März 2022 feierte Deutschland den „Freedom Day“, der die Aufhebung der meisten Maßnahmen durch die Bundesregierung kennzeichnete. Lockdownzeiten scheinen damit bis auf weiteres vorbei zu sein. Gleichzeitig ist man zu der Erkenntnis gelangt, dass es einen klaren Abschluss der Pandemie und die viel zitierte Rückkehr zu einer vorpandemischen Normalität nicht geben wird – das gilt auch für die katholische Kirche.
Auch für die katholische Kirche gibt es kein Zurück mehr zur alten Normalität, weder zu einer vorpandemischen noch zu einer, in der sie eine unangefragte gesellschaftliche Größe darstellte. Dabei machte die Pandemie viele Entwicklungen deutlich, die die Kirche schon seit Jahren in ihrem Selbstverständnis herausfordern. Der größte Veränderungsdruck entwickelte sich in den Lockdowns, welche eine weitgehende Migration kirchlicher Angebote ins Digitale erforderlich gemacht haben. Diese stellte für viele eine Herausforderung dar, der jedoch auch mit viel Mut und Kreativität begegnet wurde. Die Umstellung auf digitale Formate bedeutete nicht nur das Ausprobieren neuer technischer Methoden, sondern auch eine Veränderung der Grundkoordinaten kirchlicher Angebote. Auch wenn mittlerweile die meisten Angebote wieder in Präsenz stattfinden, bleiben die Anfragen an kirchliches Handeln, die die Umstellung auf das Digitale aufgeworfen hatte.
An wen richten sich kirchliche Angebote?
Auffallend war, dass kirchliche Angebote während der digitalen Hochphasen unabhängig von territorialen Gemeindegrenzen genutzt wurden. Es wurde nicht nur das „Standardpublikum“ erreicht, sondern aufgrund der Niederschwelligkeit auch Menschen außerhalb jenes Kreises, der gerne als „Kerngemeinde“ bezeichnet wird. Hier zeigte sich eine Entgrenzung und Bedingungslosigkeit kirchlicher Angebote. Damit werden auch bisherige Angebotsstrukturen angefragt: Für wen sind kirchliche Angebote eigentlich gemacht? Das Zweite Vatikanische Konzil gibt dabei Orientierung: Die Kirche hat für alle Menschen da zu sein, sonst wird sie ihrem Auftrag nicht gerecht. Unabhängig davon, ob ein Mensch sich aktiv engagiert, nur auf dem Papier Kirchenmitglied oder sogar ausgetreten ist. Hier ist viel Potential für die Zukunft.
Welchen Begegnungsmodus wählt die Kirche?
Die digitalen Formate ermöglichten einen neuen Modus des Kontakts. So war es möglich an vielen Online-Veranstaltungen anonym und unverbindlich teilzunehmen. Das Streamen eines Gottesdienstes oder der Zutritt zu einem Zoom-Raum erforderten weder, dass man etwas über seine Identität preisgab, noch war es mit weiteren Verpflichtungen für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer verbunden – noch nicht einmal mit einer Teilnahme bis zum Ende der Veranstaltung. Hier beschleunigte sich eine Entwicklung, die von Pastoraltheologinnen und Pastoraltheologen schon lange eingefordert wurde und immer mehr Verbreitung in der Praxis findet: Dem kirchlichen Verbindlichkeitsanspruch weicht eine radikale Angebotshaltung im Modus der Gastfreundschaft. Willkommen ist, wer interessiert ist. Es wird keinerlei Gegenleistung erwartet und das Ausschlagen von Angeboten wird nicht mit Ressentiments quittiert. Ziel ist, in erster Linie Begegnungen zu ermöglichen und nicht Bindungen.
Woran richten sich kirchliche Angebote aus?
Digitale Formate ermöglichen Interessierten, sich das passgenaue Angebot für ihre Bedürfnisse zu suchen. Was nicht hilft, nicht gefällt und keinen Bezug zur eigenen Lebensrealität hat, kann einfach ausgeschaltet und weggeklickt werden. Anbieter im digitalen Raum merken sehr schnell, ob ihre Angebote auf Interesse stoßen und nachgefragt werden – oder eben nicht. So war es auch eine Erfahrung in der Pandemie, dass manch ein gutgemeintes Angebot kaum nachgefragt wurde. Bei der Ursachenforschung ist insbesondere darauf zu achten, ob das Angebot tatsächlich auf die Bedürfnisse und Ansprüche der Zielgruppe zugeschnitten war. Diese Frage macht deutlich, dass allen kirchlichen Grundvollzügen eine diakonische Grunddimension zugrunde liegen muss, die nach den konkreten Lebenswelten, den Sorgen und Nöten der Menschen fragt und diese zu ihrem Ausgangs- und Zielpunkt macht.
Welche Rolle spielt die Kirche im Gesamt der Angebote?
Im Internet wird nochmal deutlich, was auch im Analogen schon längst Realität geworden ist: Kirche ist auf dem Markt der Religiosität und der Sinnstiftung nur eine Anbieterin unter vielen. Der religiöse Markt floriert, ein Alleinvertretungsanspruch für religiöse Angelegenheiten verbietet sich daher. Das wäre ohnehin eine unsachgemäße Verkürzung der christlichen Botschaft. Die leitende Frage darf also nicht sein: Wie schafft es Kirche, alles Mögliche anzubieten? Vielmehr muss gefragt werden: Wie schafft es Kirche, gemeinsam mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren alles möglich zu machen, was das Reich Gottes auf Erden wachsen lässt? Dazu gehört es, Netzwerke zu bilden und sich auf bereits bestehende Netzwerkstrukturen einzulassen und gemeinsam mit Menschen guten Willens zu einem Leben in Freiheit und Selbstbestimmung beizutragen.
Gilt Kirche überhaupt noch als relevant?
Eine weitere Erfahrung der Corona-Zeit war jedoch auch, dass selbst gutgemachte kirchliche Angebote, die auf konkrete Bedürfnisse eines sozialen Umfelds reagierten, nicht nachgefragt wurden. Kirche ist dann nicht mehr eine ebenbürtige Anbieterin unter vielen, wie sie sich aber gerne selbst noch sieht. Vielmehr scheint sie kaum noch als Anbieterin relevanter Angebote wahrgenommen zu werden. Zu diesem Bedeutungsverlust dürfte maßgeblich auch der Missbrauch in der katholischen Kirche, der Umgang von Verantwortlichen mit den Betroffenen und die allgemeine Trägheit der Kirche in Sachen Reformen geführt haben. Mit Blick auf die kirchlichen Angebote in der Pandemie wird deutlich, dass die Möglichkeit, diakonisch zu wirken, von strukturellen Fragen abhängig ist. Will Kirche weiterhin relevante Angebote machen, muss sie zeigen, dass sie sich auf allen Ebenen ganz dem Heil der Menschen verschreibt.
Fazit
Die Pandemie hat das System Kirche irritiert und dadurch auch Innovationen ermöglicht. Insbesondere die Übertragung vieler Formate ins Digitale war mit einigen Anfragen an das kirchliche Selbstverständnis verbunden. Diese Anfragen sind keinesfalls neu, sie traten in der Pandemie nur mit besonderer Prägnanz auf und ihre Beantwortung wird für die Zukunft der Kirche wegweisend sein. Entscheidend ist die Haltung, mit der man den Herausforderungen begegnet: Wartet man auf eine Rückkehr zur vorpandemischen Normalität oder auf eine Rückkehr in vermeintlich gute alte Zeiten, in der Kirche ihren selbstverständlichen Platz in der Gesellschaft hatte. Oder nutzt man das Innovationspotential, das die Herausforderungen mit sich brachten, kreativ. Eine Kirche, die sich als diakonisch versteht und sich dem Heil der Menschen verpflichtet, wird sich für die zweite Option entscheiden. Denn sie versteht das Heil nicht als eine abstrakte, jenseitige Größe, sondern als eine Verheißung, die im Hier und Jetzt den Einsatz für gelingendes Leben aller Menschen erfordert. Damit ist das Angebot einer Kirche der Zukunft eines, das sich auf Vernetzungen mit anderen Menschen guten Willens einlässt, eines das inklusiv und radikal einladend ist, das Bindung als Option, nicht aber als Bedingung denkt.
Titelbild: shine.graphics / Adobe Stock