Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: Januar-Februar 2023

Katholisch in Bayern und der Welt

Lebenswirklichkeit in Bayern

Foto: Sigrid Pätzold

Ein Projekt für Frauen und Kinder mit Migrationshintergrund

Ich blicke in vier strahlende Gesichter. Das ist schön und doch etwas erstaunlich. Denn der Grund, warum mir Zeynep, Serife, Zohra und Zahra heute gegenübersitzen, ist nicht zwingend ein schöner. Sie alle haben aus unterschiedlichen Gründen ihre Heimatländer verlassen oder verlassen müssen. Die vier Frauen leben seit längerer oder kürzerer Zeit als Migrantinnen in Deutschland, wo sie versuchen, sich ein neues Leben aufzubauen.

Dabei möchte ihnen die Initiative „Lebenswirklichkeit in Bayern – ein Projekt für Frauen und Kinder mit Migrationshintergrund“ helfen. Standorte von IN VIA, Katholischer Jugendfürsorge (KJF) und des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF) engagieren sich unter diesem Titel seit vielen Jahren für die Integration von bleibeberechtigten Migrantinnen bzw. Migrantinnen mit guter Bleibeperspektive und deren Kindern. Gefördert durch Mittel des Bayerischen Staatsministeriums des Innern, für Sport und Integration gestalten sie ein vielfältiges Veranstaltungsprogramm: von Informationen zur Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel bis hin zur Gesundheitsvorsorge, vom Nähkurs bis zu Computer- und Schwimmkursen, von der Besichtigung lokaler Sehenswürdigkeiten bis zum Spaziergang. Es richtet sich ausschließlich an Frauen, weil ihnen eine Schlüsselfunktion im Integrationsprozess zukommt. Ihre Einstellung, ihre Bereitschaft und ihr Wille sind nicht nur für den eigenen, sondern für den Integrationserfolg der gesamten Familie entscheidend.

Zwischen den vier Frauen sitzt Sigrid Pätzold. Sie ist Geschäftsführerin von IN VIA Augsburg und führt in ihrem Verein seit 2019 im Rahmen von „Lebenswirklichkeit in Bayern“ Veranstaltungen durch. Mittlerweile hat Pätzold mehr als 200 Frauen in ihrem E-Mail-Verteiler, die in unterschiedlicher Regelmäßigkeit an den vor ihr organisierten Veranstaltungen teilnehmen, die sie thematisch gruppiert hat. Es gibt unter anderem Angebote zu Natur und Umwelt, Gesundheit und Bewegung, Bräuchen und Traditionen, und – weil sich das im Laufe des Projekts als essenziell erwiesen hat – zu Beruf und Bildung. In diesem Rahmen haben Pätzold und ihr Team in den vergangenen drei Jahren im Raum Augsburg und Schwabmünchen pro Jahr um die 80 Veranstaltungen umgesetzt. Allein in den ersten neun Monaten des Jahres 2022 haben sie mit 66 Veranstaltungen 366 Frauen und 153 Kinder erreicht.

Angst nehmen, Selbstbewusstsein schenken

Zum Programm gehören auch Workshops. Im Bild die Ergebnisse eines Kunstworkshops zum Thema „Friede“. Foto: Sigrid Pätzold

Zeynep ist eine aufgeweckte Frau mit rot gemustertem Kopftuch. Sie ist vor drei Jahren mit ihrem Mann und den beiden Söhnen aus der Türkei nach Deutschland gekommen und nimmt seit eineinhalb Jahren an fast jeder angebotenen Veranstaltungen teil. Ob sie nach drei Jahren in Deutschland überhaupt noch die Unterstützung von IN VIA braucht? Ihr erstaunter Gesichtsausdruck lässt keinen Zweifel: „Ja! Unbedingt! Ich habe hier sehr viel gelernt.“ Sie wird ernst. „Als ich nach Deutschland gekommen bin, war ich depressiv. Ich hatte vor allem Angst. Aber ich habe mich dank des Programms an Deutschland gewöhnt und bin selbstbewusster geworden.“ Sie erzählt, dass ihr vor allem die Corona-Zeit das Ankommen und Deutschlernen erschwert hat, dass sie aber mittlerweile viele Freundschaften geknüpft hat und das Programm auch ihren Freundinnen weiterempfiehlt. Sie lacht: „Die müssen jetzt auch immer mit.“ Sie hofft, dass die Förderung für „Lebenswirklichkeit in Bayern“ um ein weiteres Jahr verlängert wird und sie weiter teilnehmen kann. Sie zögert und sucht nach Worten. „Ich habe früher viele Vorurteile gegenüber den Deutschen gehabt, aber seitdem ich hier teilnehme, habe ich meine Meinung geändert und viele Vorurteile sind verschwunden.“

Austausch und Begegnung

Das ist für Sigrid Pätzold eine der großen Stärken des Programms: Dass es eben genau nicht nur darum geht, die Sprachkenntnisse der Teilnehmerinnen zu verbessern, sondern es bei den gemeinsamen Aktivitäten Raum für Begegnung und Austausch gibt. „Gestern hatten wir zum Beispiel eine ganz angeregte Diskussion zum Thema Frauenrechte. Da ging es darum, welche Rechte ich habe und einfordern kann, denn in vielen Ländern haben Frauen noch bei weitem nicht die gleichen Rechte wie Männer. Hier hat sich von afrikanischen bis hin zu afghanischen Frauen eine große Bandbreite von Erfahrungen gezeigt.“ Die Frauen neben ihr nicken zustimmend. So kommen essenzielle Themen wie nebenbei auf den Tisch. „Wir geben nicht vor, was richtig und was falsch ist, sondern versuchen offen zu diskutieren und darauf zu schauen, was Punkte sind, die für die Frauen wichtig sind. Hier schauen wir besonders auf Irritationen und Missverständnisse, weil jeder von bestimmten Werten ein unterschiedliches Bild im Kopf hat.“

Ein Wert, über den sie immer wieder diskutieren, ist Pünktlichkeit. Auch diese Art von Alltagsstruktur soll das Programm vermitteln, erklärt Sigrid Pätzold. „Da geht es um das Thema: Wie kann ich mich organisieren? Wenn ich für irgendwas Eintrittskarten buche, muss ich auch pünktlich sein, das hilft nichts.“

Passend zum Friedensfest in Augsburg wurden „Ringe des Zusammenhalts“ geknüpft. Foto: Sigrid Pätzold

Serife ist ebenfalls mit Mann und zwei Kindern aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Die gelernte Physiotherapeutin wohnt seit fast vier Jahren in Deutschland und hospitiert im Moment in einer Praxis, bis ihre Ausbildung in Deutschland anerkannt ist. „Ich hatte schon gehört, dass die Deutschen zurückhaltender sind als wir, sehr direkt und dass sie Regeln mögen – und das empfinde ich auch so.“ Sie muss lachen und zupft an ihrem Jeanshemd. „In der Türkei machen wir alles spontan, aber in Deutschland muss jeder zuerst in seinen Kalender schauen.“

Zohra ist vor acht Monaten ohne Freunde und Familie aus Afghanistan nach Deutschland gekommen und hat schon an einigen Veranstaltungen teilgenommen. Sie sagt, der Austausch mit den anderen Frauen ist sehr wertvoll für sie. Deshalb hat sie auch ihre Freundin Zahra mitgebracht. Sie ist erst seit zwei Monaten in Deutschland und hat am Tag zuvor ihre erste Veranstaltung besucht, ein gemütliches Kaffeekränzchen. „Mir geht es gut“, sagt sie in noch gebrochenem Deutsch und lächelt. Überhaupt wird viel gelacht in der Runde und mal ergänzt die eine, mal die andere den Satz der Vorrednerin, wenn der das deutsche Wort nicht einfallen will. Gerade die beiden Frauen, die noch nicht so lange dabei sind, schauen sich immer wieder hilfesuchend nach Sigrid Pätzold um.

Welche Dinge die Frauen aus dem Programm mitnehmen, sei sehr unterschiedlich, sagt sie. Das hat mit den Sprachkenntnissen zu tun, hängt aber auch von der Ausbildung der Frauen und ihrem Herkunftsland ab. So hatten die zwischenzeitlich dazugekommenen Ukrainerinnen andere Ansprüche an das Programm als zum Beispiel Afrikanerinnen oder Türkinnen. „Für Geflüchtete aus der Ukraine ist zum Beispiel bei Stadtbesichtigungen die Nutzung von Touristeninformationen, Museen oder Google Maps überhaupt kein Problem, für die Afrikanerinnen ist das oft schwierig.“ Das hänge auch mit ihrer technischen Ausstattung zusammen. „Wenn ich ein Smartphone mit einer deutschen Nummer und Internetzugang habe, kann ich natürlich andere Dinge tun als mit einem Tastenhandy oder komplett ohne, weil ich nicht lesen und schreiben kann.“

Einige Teilnehmerinnen aus der Ukraine sind mittlerweile wieder in ihre Heimat zurückgekehrt, aber Sigrid Pätzold wird „Lebenswirklichkeit in Bayern“ auch weiterhin als Anlaufstelle für Neuankömmlinge anbieten. Die Förderung für ein weiteres Jahr hat sie bereits beantragt.

Die vollständigen Namen der genannten Personen sind der Redaktion bekannt. Weil sie in ihrer Heimat verfolgt wurden, nennen wir hier nur ihre Vornamen.


Titelfoto: Stadtrundgänge – hier in Nürnberg – sind bei den Teilnehmerinnen von „Lebenswirklichkeit in Bayern“ beliebt.


Verfasst von:

Sarah Weiß

Freie Autorin