Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: März-April 2023

Schwerpunkt

Demut und nüchterne Hoffnung

Foto: Alexandra Koch / Adobe stock

Grundorientierungen christlicher Friedens- und Konfliktethik

Wer sich im christlichen Glauben um eine ausgewogene Reflexion zu Frieden und bewaffnetem Konflikt müht, steht vor der stets unabgeschlossenen Herausforderung, Moralität vernünftig sein zu lassen. In anderen Worten muss er oder sie darauf achten, weder den Irrweg der Mortalität noch den der Illusion zu wählen; also weder des Managements von Unrecht und Leid noch des Überblendens dieses Geschehens. Dieser Anforderung muss sich auch der wissenschaftliche Zugang, muss sich ebenfalls die Theologie stellen.

Ein ausgewogener Blick auf Frieden und bewaffneten Konflikt aus Perspektive theologischer Ethik bedeutet, sowohl den Frieden als haltungs- wie handlungsausrichtendes Leitbild und Zielgröße anzusehen, als auch die Existenz des bewaffneten Konflikts nicht auszublenden und in bestimmten Extremfällen Gewaltanwendung nach strengen Kriterien als legitim zu bezeichnen. Es geht um ein – keineswegs symmetrisches! – unhintergehbares Ineinander von Friedens- und Konfliktethik.

Das Proprium theologischer Ethik – also das, was ihr besonderes Eigenes ausmacht und das aus dem denk-konstitutiven Raum der Gemeinschaft der Gläubigen hervorgeht – kommt allerdings bei der Friedensethik stärker zum Tragen als bei der Konfliktethik: Denn im Hinblick auf Frieden besteht Ethik im Entwickeln von „Orientierungsparametern“ und verlangt klugheitsgeleitetes „Neuerschließen“, während sie hinsichtlich des bewaffneten Konflikts eher das Erarbeiten von „Prüfparametern“ ist und klugheitsgeleitete „Kriterienreflexion“ erfordert.

So ist, inmitten manch anderer, der wohl wichtigste Aspekt einer theologischen Friedens- und Konfliktethik meines Erachtens, dass sie durch die ihr eingeschriebene eschatologische Dimension die stets drohenden Seitengräben der demiurgischen Überhöhung wie der hoffnungslosen Verzweiflung meidet. Im Europa des Jahres 2022 ist uns die Aufgabe, diesen schmalen Weg zu befahren, wieder gut nachvollziehbar geworden.

Demut und Hoffnung

Anders ausgedrückt: Theologische Friedens- und Konfliktethik ist gleichzeitig von den Haltungen der Demut wie der nüchternen Hoffnung durchdrungen. In dieser Weise zu denken und zu wirken bedeutet, zweierlei komplementär zusammenfügen zu können. Zum einen, in realistischer Weise das anzunehmen, was die eigenen Möglichkeiten übersteigt: Sich also nicht mit dem vermeintlich „großen Wurf“ zu übernehmen, sondern sich auf kleine, sichere Etappen zu beschränken. Zum anderen, sich nicht mit dem abzufinden, was im Hier und Jetzt möglich ist: Sich also nicht auf bloße „Defizitminimierung“ zu reduzieren, sondern vom stets Darüberhinausreichenden erfüllt zu bleiben.

Auf dieser Grundlage lässt sich dann auch in zustimmungswerter und konstruktiver Weise mit dem graduellen und dynamischen Gefüge von negativem und positivem Frieden arbeiten. Dieses ist – ganz bildlich – in seinem Fundament fest verankert sowie nach oben hin wachstumsbegünstigend und wird dem menschlichen Leben und Zusammenleben auf diese Weise am ehesten gerecht:

Das minimalistische Konzept des negativen Friedens bedeutet, dass kein Krieg herrscht und keiner droht, dass Menschen keine direkte körperliche Gewalt erfahren oder konkret fürchten. Das weitergehende Konzept des positiven Friedens umfasst demgegenüber, Not abzubauen, Gewalt zu vermeiden und Unfreiheit zu mindern, also deutlich umfangreichere Abwehr- und Teilhaberechte.

Der Krieg in der Ukraine

Was heißt das, wenn wir es im Hinblick auf die militärische Aggression gegen die Ukraine etwas konkretisieren? Was für das Vorgehen der Ukraine und was für jenes der sie unterstützenden Staaten normativ gilt, ist zwar als ineinander verschränkt zu betrachten, aber freilich zu unterscheiden. Das legitime Handeln der unterstützenden Staaten sei hier als eine Art Rahmen gedacht; es ist dementsprechend nicht nur ein Beistand, sondern setzt auch bestimmte Grenzen. Das legitime Handeln der Ukraine muss sich demzufolge zwar innerhalb jenes Rahmens bewegen, doch dort ist ihm Vorrang zu geben.

Bezüglich des Vorgehens der Ukraine haben die Autoritäten dieses selbstregierten Gemeinwesens die allgemeine Pflicht, die Bevölkerung, die sie bestellt hat, gegen Rechtsbrüche von innen wie von außen zu schützen und die Daseinsvorsorge zu gewähren. Die genannte Pflicht wird jedoch aufgehoben, wenn die möglichen Schutzhandlungen entweder aussichtslos sind oder Belastungen verursachen, die im Verhältnis zum geschützten Gut in keinem vernünftigen Verhältnis stehen. Diese balancierte Konzeption gründet darin, dass die zum Gemeinwesen gehörenden Menschen weder leichtfertig „preisgegeben“ noch sinnlos „instrumentalisiert“ werden dürfen; denn kein Gemeinwesen besteht um seiner selbst willen, sondern einzig und allein, um den zu ihm gehörenden Personen die bestmöglichen Lebensbedingungen zu gewähren.

Dort, wo die selbstregierte Bevölkerung der Ukraine unter unmittelbare oder mittelbare Fremdherrschaft geraten ist, sind die Güter der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, der marktwirtschaftlichen Betätigung und der politischen Freiheit verletzt worden – anders formuliert: sind sowohl bürgerlich-politische als auch wirtschaftlich-sozial-kulturelle Rechte fundamental betroffen. Sie so weit wie möglich zu schützen oder wiederherzustellen ist das legitime Ziel positiven Friedens der ukrainischen Autoritäten. Das dafür zunächst zu verwirklichende Ziel negativen Friedens ist, auf dem größtmöglichen Staatsgebiet Kriegshandlungen und Fremdherrschaft zu überwinden, direkte körperliche Gewalt zu minimieren: Hierzu bleiben militärische Mittel insoweit und solange legitim, wie bei vernünftiger Betrachtung der Gesamtumstände das Abwehren bzw. Zurückdrängen der Aggression und das Erschöpfen des Potentials des Angreifers möglich erscheint sowie die Belastungen für die ukrainische Zivilbevölkerung verhältnismäßig bleiben.

Formen der Unterstützung

Bezüglich des Handelns der unterstützenden Staaten sei eindeutigkeitshalber noch einmal betont, dass sie die vorstehend angesprochenen Entscheidungen der ukrainischen Autoritäten, die auf das Wohl der dortigen Bevölkerung ausgerichtet sind, als selbstbestimmte Entscheidungen einer selbstregierten Bevölkerung respektieren müssen. Als solche sind sie zu beraten und – insofern sie legitim sind – anschließend zu unterstützen.

Diese Unterstützung kann als zivile in allen Formen erfolgen. Als militärische geht es um das Liefern von Waffen und Ausrüstung sowie das Ausbilden von Einheiten in großem Umfang. Die Bevölkerung eines unterstützenden Staates darf hierdurch zwar spürbaren Belastungen ausgesetzt werden, sie darf jedoch weder so stark betroffen werden und leiden wie die ukrainische Bevölkerung, noch darf es zu einer offensichtlichen Verschlechterung der Gesamtsituation kommen. Dementsprechend sind gegen Russland ergänzend auch direkte nicht-militärische Zwangsmittel wie Sanktionen anzuwenden, eine direkte militärische Konfrontation darf in der gegenwärtigen Konfliktkonstellation hingegen weder beabsichtigt noch billigend in Kauf genommen werden.

Fazit

So fassen wir am Ende zusammen: Auch wenn in der letztverbindlichen Zentrierung auf den Menschen hin ein positiver Friede im inner- wie zwischenstaatlichen Bereich eine der unverzichtbaren Bedingungen ist, um Einzelnen wie Gemeinschaften die bestmögliche Entfaltung zu ermöglichen, so hat in der Ukraine und an zahlreichen Orten unserer Welt das angemessene Engagement zunächst ganz dem so dürftig anmutenden negativen Frieden zu gelten.

Dass kein Krieg herrscht und ebenso keiner droht, dass Menschen keine direkte körperliche Gewalt erfahren oder konkret fürchten, erfordert dann im Fall eindeutiger Aggression zunächst, dem Angreifer in verantwortbarer Weise in den Arm zu fallen und jene, die dies tun, dabei ebenso umsichtig zu unterstützen – in Demut und nüchterner Hoffnung.

 


Hinweis: Der Autor ist neben seiner Forschungstätigkeit am Institut für Theologie und Frieden Beamter der Kurie des Heiligen Stuhls. Der Beitrag ist nicht in dienstlicher Eigenschaft verfasst und gibt ausschließlich die persönliche Auffassung des Autors wieder.


Verfasst von:

Marco Schrage

Research Fellow am Institut für Theologie und Frieden in Hamburg