Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: März-April 2023

Schwerpunkt

Wem gehören unsere Ressourcen – und wem sollten sie gehören?

Foto: Antoniodiaz / Adobe stock

Seit zehn Jahren ist der ehemalige Chemietechniker, lebenslange Literaturfreund, langjährige Exerzitienbegleiter, Jesuit (und damit auch Theologe und Philosoph) Jorge Bergoglio als „Papst Franziskus“ bekannt – und gerade die eben genannten Eigenschaften machen ihn zu einem spannenden Dialogpartner für verschiedene Wissenschaftsdisziplinen.

Ich durfte Papst Franziskus 2014 das erste Mal begegnen und war als studierter Biologe und Volkswirt auch darauf gespannt, was von jemanden zu erwarten sei, der sich den provozierenden Namen „Franziskus“ gegeben hatte: Würde er wie sein Namensvorbild anecken, irritieren, motivieren – und damit die zeitgenössische Debatte über soziale und ökologische Gerechtigkeit mitprägen? Würde er – oder wollte er überhaupt – die gesellschaftlichen und kirchlichen Machts- und Verwaltungsstrukturen tatkräftig verändern oder würde er es vorziehen, ein positives Vorbild abzugeben und an das Gewissen jedes Einzelnen zu appellieren?

Von den Ärmsten lernen

Nun, als Katholik hätte ich mir in manchen Punkten mutigere Strukturreformen von diesem Papst erhofft, aber als Wissenschaftler hat er mich seitdem immer wieder positiv überrascht. Ich versuchte, seinen Rat zu beherzigen, „insbesondere von den Ärmsten zu lernen“ und beschloss, die Daten für meine wirtschaftswissenschaftliche Doktorarbeit nicht mehr in deutschen Unternehmen, sondern in indischen Slums und Urwalddörfern zu sammeln – und als die Ergebnisse vorlagen und ich vorsichtig im Vatikan anfragte, ob daran Interesse bestehe, wurden meine Frau und ich postwendend eingeladen, ihm die Arbeit doch persönlich zu übergeben. Ich dachte damals, die abermalige Begegnung mit diesem nachdenklichen, sehr konzentriert zuhörenden Menschenfreund (der zudem erstaunlich gut Deutsch sprach) wäre der schöne Abschluss meiner Beschäftigung mit seinen Impulsen, doch es kam anders. Nun forsche ich als Mitarbeiter der Münchner Hochschule für Philosophie (einer Einrichtung „seines“ Jesuitenordens) weiterhin über Fragen der Umwelt- und Wirtschaftsethik und merke immer mehr, wie hilfreich die Denkanregungen dieses Papstes für die wissenschaftliche Praxis sind.

Insbesondere schärft er das Bewusstsein für die Bedeutung interdisziplinärer Zusammenarbeit und für die vielen Aspekte des „Transformativen Forschens“: Jedes Forschungsprojekt verändert (ob gewollt oder nicht) unseren Blick auf die Welt, es verändert sowohl den Forschenden als auch sein Forschungsobjekt. Die Wissenschaft sollte dabei zwar möglichst objektiv sein, aber sie ist nie neutral – so wie beispielsweise die Wirtschaftswissenschaften menschliche Gier und manche Rücksichtslosigkeit zwar erklären, aber nicht entschuldigen können. Wissenschaft ist und bleibt „menschlich“: sie ist das selbstgeschaffene Hilfsmittel des Menschen, um sich selbst und seine Welt besser zu verstehen und sie (im Guten wie im Schlechten) noch „menschlicher“ zu machen. Transformatives Forschen versucht, sich all dieser Wechselwirkungen und der damit verbundenen Verantwortung bewusst zu sein, dies offen zu kommunizieren und als „Wissensschaffender“ zu einem möglichst positiven Wandel beizutragen.

Von und mit ihnen lernen

Die Ansätze von Papst Franziskus sind dafür in mehrerlei Hinsicht hilfreich. Ich würde seinen Ansatz einerseits als „Armutsethik“, andererseits als „Entfaltungs- oder Befähigungs-Ethik“ bezeichnen – und dabei ist sie zugleich eine „dialogische Ethik“, die sich in der Begegnung mit anderen entfaltet. Was heißt das nun konkret? In seiner Armutsethik geht es Papst Franziskus nicht primär darum, sich mehr für die Armen zu engagieren, sondern von und mit ihnen zu lernen, was gemeinsam getan werden kann. Der Reiche, der nur milde Gaben verschenkt, aber keinen echten Austausch auf Augenhöhe zulässt, ist damit selbst ein Opfer: Er verschwendet einen Teil seines menschlichen Entwicklungspotentials. Genauso verschwendet eine Pfarrgemeinde, welche die Sorge um Kranke und Alte vollständig an die Caritas delegiert, viel Gemeinschaftspotential und der Wissenschaftler, der nur auf seine Fachkollegen hört, viel Erkenntnispotential.

Dieses gemeinsame Lernen ist nicht auf den Kontakt mit den Ärmsten beschränkt, ist aber aus deren Außenseiterperspektive besonders effektiv: Die Marginalisierten haben einen klaren Blick auf die Schwachstellen unserer gesellschaftlichen Strukturen, sie bemerken oft zuerst, wo Gesundheitssysteme zu kollabieren drohen oder Ökosysteme zusammenbrechen.

Mit seiner „Entfaltungs- oder Befähigungsethik“ setzt Papst Franziskus genau auf dieses „Gelingen“: Was braucht der Mensch, um sein Potential zu entfalten? Statt eindeutigen Werturteilen („wer bin ich, um zu verurteilen?“) konzentriert er sich auf das Gute, das er vorfindet und versucht, dieses zu stärken. Für die Umweltethik bedeutet dies, sich nicht in der Debatte zu verlieren, wie „Klimaneutralität“ oder „Nachhaltigkeit“ perfekt zu definieren sind, sondern sich konsequent an diesen Idealen zu orientieren. „Nachhaltig leben“ ist ähnlich wie „Christsein“ ein Leitstern, der auf Erden zwar nie erreicht werden kann, aber doch den Weg beleuchtet, der konsequent weitergegangen werden sollte.

Ein konkretes und ausgesprochen interdisziplinäres Forschungsprojekt, bei dem wir als Hochschule diese dialogische Ethik einbringen, dreht sich um die „Flexibilisierung von Kläranlagen“ (FLXsynErgy): Es geht um die technischen, aber auch organisatorischen Voraussetzungen, um mehr biologische Abfallstoffe (aus der Milchindustrie, aber potentiell auch Essensreste) so in Kläranlagen einzubringen, dass gezielt Faulgase erzeugt werden können – so dass „grünes“ Klärgas (oder der daraus erzeugte Strom) einen größeren Beitrag zur Energiewende leistet.

Kreisläufe des Lebens schützen

Eine wertvolle Erkenntnis bezieht sich auf die „Ressourcenethik“: Seit langem herrscht Einigkeit, dass „Wasser“ ein Gemeingut ist, das verantwortungsvoll genutzt, aber nicht besessen oder gar monopolisiert werden darf. Entsprechend sind Kläranlagen und Wasserwerke in öffentlicher Hand und der Wasserkreislauf wird (auch wenn er teilweise privatwirtschaftlich genutzt wird) streng (und möglichst transparent) überwacht. Doch es gibt weitere „Kreisläufe des Lebens“, die zunehmend bedroht sind und in ähnlicher Weise als Gemeingüter geschützt und reglementiert werden sollten: diese sind die Kreisläufe von CO2, Phosphor und Stickstoff, ohne die nichts wächst und lebt. Genauso wie das wertvolle Wasser laufen sie durch unsere Kläranlagen, werden zunehmend knapp, aber der Umgang mit ihnen wird kaum ethisch reflektiert.

In Fratelli Tutti rüttelt Papst Franziskus deshalb an unserem „traditionellen“ Eigentumsverständnis: Wer sich etwas zu eigen macht, das für das Leben aller wichtig ist, kann dies nur tun, wenn es im Interesse aller ist. So stellt sich angesichts knapper werdender Ressourcen zunehmend die Frage, wie damit umzugehen ist, wenn Investmentfonds (oder der chinesische Staat) weltweit enorme Flächen an Ackerland kaufen; und noch provokanter: gehören Ressourcen (wie Rohstoffe, Energie oder Nahrungsmittel) exklusiv den Staaten (oder Privatleuten), auf deren Territorium sie gefördert werden, oder nicht eher allen? Fragen, über die es sich zu diskutieren lohnt – am besten unter Beteiligung der „Perspektive der Armen“ und mit einer Ethik, die an „Entfaltung und Befähigung“ orientiert ist.


Titelfoto: In seiner Armutsethik geht es Papst Franziskus nicht primär darum, sich mehr für die Armen zu engagieren, sondern von und mit ihnen zu lernen, was gemeinsam getan werden kann.


Verfasst von:

Stefan Einsiedel

Zentrum für globale Fragen an der Hochschule für Philosophie München SJ