Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: März-April 2023

Schwerpunkt

Die Freiheit bewahren

Abbildung: Fluenta / Adobe stock

Die Zehn Gebote

Sofern die Bedeutung der biblischen Überlieferung als ethische Richtschnur für die moderne Gesellschaft noch diskutiert wird, werden oft die Zehn Gebote, der Dekalog („Zehnwort“), genannt. Bisweilen werden sie noch heute als zeitlose, sittliche Grundordnung verstanden, aus der sich zahlreiche Einzelnormen ableiten lassen. Der biblische Kontext ist aber ein anderer.

Der Dekalog ist in zwei Fassungen überliefert. Die erste, in Exodus 20, schließt an die Sklaverei Israels in Ägypten und die Befreiung daraus an. Direkt im Anschluss erhält Mose das sogenannte Bundesbuch, welches das Leben des Volkes Israel nach der Befreiung aus Ägypten regeln soll. Die Zehn Gebote sind im Zusammenhang des Buches Exodus als Zusammenfassung und Verstehenshilfe für die folgenden Weisungen für das menschliche Zusammenleben zu lesen. Auch in Deuteronomium 5, der zweiten Fassung, die sich in einigen Punkten unterscheidet (etwa in der Begründung des Sabbatgebots), stehen diese vor vielen weiteren Regelungen des menschlichen Zusammenlebens.

Leitlinien für ein Leben in Freiheit

Erzählerisch eingebettet ist die Offenbarung des Zehnworts nach dem Auszug aus Ägypten, der grundlegenden Befreiungserfahrung Israels, und vor der Landnahme Kanaans. Vor diesem Hintergrund liegt eine Deutung der „Gebote“ als Leitlinien für ein Leben in Freiheit nahe. Nicht umsonst beginnen die Zehn Gebote mit dem paradigmatisch vorangestellten Satz „Ich bin JHWH, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus” (Ex 20,2; Dtn 5,6). Die Freiheit, die Gott dem Volk Israel durch den Auszug aus Ägypten geschenkt hat, soll nicht dadurch gefährdet werden, dass andere Götterüber verehrt werden, Gewalt und unsolidarisches Handeln überhand nehmen oder der soziale Frieden zerstört wird. Die sich aus dem Kontext des Buches Exodus ergebende Bedeutung des Dekalogs als Wegweiser für ein Leben in Freiheit mahnt zur Vorsicht bei der Bezeichnung als „Gebote“, da mit diesem Begriff oft eine einengende Konnotation verbunden wird, zumal der Verweis auf die Befreiungstat Gottes als Voraussetzung oft unterschlagen wird.

Der patriarchalen Gesellschaft entsprechend, in denen die Texte der Tora entstanden sind, richtet sich das „Du sollst“ im Dekalog vorrangig an erwachsene, männliche Israeliten, wie am Gebot der Sabbatruhe zu sehen ist: „An ihm darfst du keine Arbeit tun: du und dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin und dein Vieh und dein Fremder in deinen Toren (Ex 20,10).“ Das angesprochene „Du“ (das Hebräische kennt eine männliche und eine weibliche Du-Form, wobei der Dekalog nur die erstere verwendet) hat also Kinder, die bereits zu Arbeiten herangezogen werden können, besitzt Sklaven und Vieh und wird außerdem von den Fremden unterschieden.

Auch das Gebot, nicht die Ehe zu brechen, bedeutet zunächst nicht, mit der Frau eines anderen Mannes zu schlafen und so dessen Ehe zu zerstören. Dennoch formuliert gerade das Sabbatgebot eine wichtige, für alle Mitglieder der Gesellschaft geltende Regel und begrenzt so die Verfügungsgewalt männlicher Vollbürger. Das Gebot „Du sollst nicht töten“ ist zunächst ebenfalls eng gefasst: Das hebräische Wort raṣach bezeichnet schuldhaftes, gewaltsames Töten – also das, was modern mit den Begriffen Mord und Totschlag zu fassen ist. Andere Gebote schützen das Eigentum („Du sollst nicht stehlen“, „du sollst nicht das Haus deines Nächsten begehren“), die Versorgung altgewordener Eltern in einer Gesellschaft, die noch keine Rentenversicherung kennt („du sollst Vater und Mutter ehren“), Falschaussagen vor Gericht („du sollst nicht falsch aussagen“ sowie – insbesondere beim Eid – „du sollst den Namen JHWHs, deines Gottes, nicht missbrauchen“). Das Verbot, sich von Gott ein Bild zu machen, zielt zunächst auf die Verehrung in Form eines Kultbildes ab, wie sie im Alten Orient verbreitet war, und schärft eindringlich die Unverfügbarkeit Gottes ein.

Die ethische Dimension

In ihren Kontexten in den Büchern Exodus und Deuteronomium dienen die Zehn Gebote also dazu, die von Gott geschenkte Freiheit zu bewahren, indem die Grundlagen für Leben und Freiheit durch Gebote und Verbote gesichert werden sowie soziale Verpflichtungen gegenüber Eltern, Kindern und Abhängigen benannt werden. Und sie ermöglichen es, die besondere Beziehung Israels zu seinem Gott zu bewahren, welche dieses Leben in Freiheit sichert. Auch wenn der Dekalog somit einen spezifisch israelitischen Kontext voraussetzt, sind Deutungen, die ihn als allgemeines sittliches Gesetz sehen, das für alle Menschen gilt, bereits alt. Sie finden sich schon bei dem jüdischen Philosophen Philo von Alexandria (ca. 20 v. Chr. – 50 n. Chr.), später vor allem bei Ambrosius von Mailand (339-397). Sowohl in der rabbinischen Tradition als auch bei Jesus von Nazareth erscheint der Dekalog – teils in Verbindung mit dem Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18) – als Zusammenfassung der ganzen Tora (Mt 19,17-19). Zugleich zeigt sich im Lauf der weiteren Auslegungsgeschichte die Tendenz, beim Dekalog die ethische Dimension zu betonen. Das Verbot, die Frau des Nächsten zu begehren, meint zunächst die planvolle „Aneignung“ der Ehefrau eines Anderen. Schon im Neuen Testament wird es auf eine innere Haltung des Begehrens ausgeweitet (Mt 5,27-30).

Die Ethisierung des Dekalogs zeigt sich dann auch in der Verschiebung der Bedeutung, die einige Gebote erfahren. So wird das Elterngebot nicht mehr als Pflicht zur Versorgung altgewordener Eltern verstanden, sondern auch zur Disziplinierung von (kleinen) Kindern missbraucht – im biblischen Kontext sind diese gar nicht gemeint! Unter das Verbot des Ehebruchs fallen immer öfter alle möglichen moralischen Verfehlungen im Bereich der Sexualität, wie sich bereits in der frühen Kirchenordnung Didache (1./2. Jh. n. Chr.) zeigt. Das Verbot der Falschaussage wird zu einem allgemeinen „Du sollst nicht lügen.“ Und das Tötungsverbot spielt in manchen pazifistischen Entwürfen eine Rolle, auch wenn das Töten im Krieg ursprünglich nicht von diesem Gebot umfasst ist.

Für die Verwendung des Dekalogs in der gegenwärtigen Ethik sind jenseits gesellschaftlicher Veränderungen auch weitere Probleme zu konstatieren: Welche Fälle fallen für uns, über Mord und Totschlag hinaus, unter das Tötungsverbot? Kann es Fälle geben, in denen die Aneignung fremden Besitzes legitim sein kann? Und wie gehen wir angesichts des zunehmenden Verschwimmens von Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit mit der Einsicht um, dass für eine Gesellschaft allgemeine arbeitsfreie Zeiten zentral sind? Die Zehn Gebote sind biblisch also nicht als exakte ethische Normen formuliert, sondern versuchen, elementare Werte wie menschliches Leben, Eigentum sowie das Zusammenleben zwischen den Generationen, Geschlechtern, Starken und Schwachen zu schützen. Aus der Perspektive der Bibel Israels ist der Dekalog somit als Grundordnung für ein Leben in Freiheit zu verstehen und folglich logische Konsequenz der Befreiung Israels aus Ägypten. Dass Gott die Menschen zur Freiheit berufen hat, ist eine bleibende Überzeugung der jüdischen Bibel wie des christlichen Alten Testaments. Wie diese Freiheit am besten zu bewahren ist, ist dabei in immer neuer Weise durchzubuchstabieren.


Verfasst von:

Maximilian Häberlein

Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Altes Testament und biblisch-orientlische Sprachen an der Julius-Maximilian-Universität Würzburg