Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: März-April 2023

Schwerpunkt

Von der Wiege bis zur Bahre

Foto: Maksym / Adobe stock

Eine Auseinandersetzung mit den ethischen Fragen am Anfang und am Ende des Lebens

„Von der Wiege …“ – ab  wann beginnt eigentlich das menschliche Leben? Ist die Wiege wirklich der Anfang des menschlichen Lebens?

In der Biologie als Naturwissenschaft sind die relevanten Entwicklungsstufen menschlichen Lebens die Imprägnation (Befruchtung), die Nidation (Einnistung), die Ausbildung des Primitivstreifens (Schmerzempfinden, Ausschluss der Totipotenz) sowie die potenzielle Lebensfähigkeit außerhalb des Mutterleibs. Für den Beginn des Lebens hat man sich dabei als spätesten Zeitpunkt auf die Entwicklung des Primitivstreifens geeinigt (ca. 14 Tage nach Befruchtung).

Wann wird aus „etwas“ ein „jemand“?

Für die katholische Kirche entschied Papst Pius IX. bereits im Jahr 1869 in seinem dogmatischen Erlass Apostolicae sedis, dass gemäß damals gültigen naturwissenschaftlichen Fakten am Beginn des Lebens die Befruchtung steht. Also ist der Mensch ein Mensch von Anfang an. Und wie steht es um Würde und Schutz des menschlichen Lebens?

In der Philosophie wird in der Vernunftethik angenommen, dass nur der Mensch von Beginn an Subjekt und Objekt zugleich ist und alle Anlagen besitzt, vernünftig zu handeln. Bereits im Mutterleib handelt es sich also um ein mit sich identisches menschliches Wesen, also stets um „jemand“ und nicht „etwas“. Der Mensch wird nicht Mensch, sondern ist von Beginn an Mensch mit dem Recht auf Menschenwürde und Schutz. Die Philosophin Christa Schües stellt die Beziehung als Grundlage menschlichen Seins in den Mittelpunkt, insbesondere die Beziehung zwischen Mutter und Kind.

Die katholische Kirche betont dafür sowohl das Recht auf Schutz, Würde, wie auch die Beziehung, stellt jedoch die Beziehung des Menschen zu Gott in den Mittelpunkt. Ein Mensch ist demnach nicht nur ein Kind seiner leiblichen Eltern, sondern stets auch ein individuelles "Wunschkind" Gottes, geschaffen nach seinem Abbild und versehen mit dem Odem Gottes, also mit dem göttlichen Funken, oder wie Augustinus sagt, dem Seelenfunken. Der Mensch ist demnach von der Befruchtung an bis zum Ende seines Lebens in allen Phasen stets vollständig schützenswert.

Ab wann ist der Mensch schützenswert?

Worum es in der Diskussion um Schutz und Würde also eigentlich geht, ist offensichtlich nicht die Frage nach dem eigentlichen Beginn des menschlichen Lebens, sondern ab wann der Mensch eine schützenswerte Person ist. Dazu passt ein Tauflied: „Du bist gewollt, kein Kind des Zufalls, keine Laune der Natur, ganz egal ob Du Dein Lebenslied in Moll singst oder Dur, Du bist ein Gedanke Gottes, ein genialer noch dazu, Du bist Du, das ist der Clou!“ Würde und Lebensschutz stehen im Grundgesetz und in der Charta der Menschenrechte. Dennoch steht es nicht gut um die Menschenwürde und den Lebensschutz, weder zu Beginn des Lebens noch im Verlauf. Und wie sieht es am Lebensende aus, also … bis zur Bahre?

Würde, Schutz und Autonomie

Der Wunsch nach einem würdigen Leben bis zuletzt und dem Bedürfnis nach Schutz bei gleichzeitigem Erhalt der Autonomie stehen im Palliative Care nicht im Widerspruch. Dafür werden individuell abgestimmte Konzepte entwickelt, die im häuslichen Setting ebenso wie in Einrichtungen durch eine umfassende, multiprofessionelle Unterstützung Sicherheit vermitteln und Lebensqualität garantieren. Diese Arbeit leistet das Palliative Care bei kontinuierlicher Mitgestaltung der Patientinnen und Patienten, um nicht nur selbstbestimmt leben, sondern auch selbstbestimmt sterben zu können.

Bei dem Thema „Assistierter Suizid“ gehen die Meinungen stark auseinander. Es gilt, der Tragweite unterschiedlicher Situationen gerecht zu werden. Foto: Joel Bubble Ben / Adobe stock

Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Februar 2020 gilt nun zusätzlich zum Palliative Care das Recht auf selbstbestimmtes Sterben auch durch einen assistierten Suizid. Nicht nur für uns Christen stellt sich dabei die Frage, ob das ethisch/moralisch vertretbar ist, denn bei dem Thema „Assistierter Suizid“ gehen die Meinungen stark auseinander. Stellt der autonome Wille zu sterben eines der Hauptargumente der Befürworter dar, argumentieren die Gegner mit einer drohenden Abhängigkeit und einem potenziellen Missbrauch der Notlage von zumeist schwachen oder/und schwerkranken Menschen jeden Alters.

Ob Menschen in lebensbedrohlichen Krisen noch frei über ihr Weiterleben entscheiden können, bleibt für mich jedoch fragwürdig. Daher teile ich die Sorge der Kritiker dieses Urteils. Dennoch gibt es fraglos verzweifelte Situationen, in denen Patientinnen und Patienten trotz ausgezeichneter Palliativmedizin auf assistierten Suizid zurückgreifen wollen. Dürfen wir dies als Christen verurteilen? Diese Diskussion muss unbedingt differenziert geführt und Rahmenbedingungen derart gestaltet werden, dass sie der Tragweite unterschiedlicher Situationen gerecht werden. Wie kann das gelingen?

Unterschiedlichen Situationen gerecht werden

Erforderlich ist zunächst eine umfassende Beratung für die Betroffenen, die Würde und Schutz der Patientinnen und Patienten fokussiert. Dazu gehört auch die Aufklärung über „Total Pain Care“, also die Möglichkeiten einer umfassenden Schmerztherapie, die neben den physischen Symptomen auch die psychischen und sozialen Nöte behandelt. Hinzu kommt das Verfassen einer Patientenverfügung im Vollbesitz der geistigen Kräfte, wobei eine palliativmedizinische Behandlung verpflichtend den Vorrang haben muss.

Wird ein assistierter Suizid gewünscht, darf die Gegenwart von Medizinerinnen und Medizinern nicht erzwungen werden. Eine psychologische und hospizliche Begleitung der An- und Zugehörigen ist jedoch stets erforderlich, denn die Belastung einer Familie insbesondere beim Suizid ist unermesslich. Deshalb muss die Hospiz- und Palliativversorgung für jedes Lebensalter flächendeckend ausgebaut werden. Minderjährige bis zu einem Alter von mindestens 16 Jahren müssen zudem aus Gründen des Kinderschutzes grundsätzlich vom assistierten Suizid ausgenommen werden. Und Politik, Gesetzgeber und Gesellschaft tragen die ethische Verantwortung dafür, dass jeder Mensch sein Leben selbstbestimmt zu Ende leben kann, palliativ gut versorgt, ohne Druck und vor allem ohne jede finanzielle Abwägung. Dafür müssen wir Christen uns vehement einsetzen!

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Titelbild: Die Frage nach dem Beginn des menschlichen Lebens beschäftigt Theologen, Philosophen und Mediziner gleichermaßen. Die Antworten sind durchaus unterschiedlich.

 


Verfasst von:

Christine Bronner

Stellvertretende Vorsitzende Sachausschuss "Ethik", Landeskomitee der Katholiken in Bayern