Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: März-April 2023

Schwerpunkt

Menschenwürdig statt prekär

Foto: Fairith / Adobe stock

Wertvoll arbeiten

Immer noch wird in den Wirtschaftswissenschaften darüber gestritten, ob so etwas wie Ethik in den wirtschaftlichen Beziehungen überhaupt einen Platz haben sollte. Schon der Begründer des Marktes setzte ja bereits darauf, dass jeder sich auf seinen Eigennutz besinnen sollte, damit insgesamt so etwas wie Gemeinwohl entstehen könne. Nicht nur ungleiche Machtverhältnisse in der Wirtschaft haben aber in der Realität dazu geführt, dass Menschen ausgebeutet und eben gerade nicht ihrer Würde gemäß behandelt werden. Daher hat Moral selbstverständlich einen wichtigen Platz in der Arbeitswelt.

Immer mehr Menschen – gerade auch Christinnen und Christen – achten daher bei ihrem Konsum auf ethisches Verhalten, informieren sich vor dem Einkauf über Produktionsbedingungen und lassen daher eben nicht nur ihren Geldbeutel entscheiden. Diese individuellen Handlungen, so wertvoll sie im Einzelnen sind, reichen jedoch nicht aus. Es braucht politische Rahmenbedingungen, die sich an Werten wie Gerechtigkeit und Fairness orientieren. Es darf sich nicht länger finanziell lohnen, Menschen schlecht zu bezahlen oder ihnen wichtige Arbeitnehmerrechte vorzuenthalten.

Wie Politik aktuell handelt

Wenn man diese Vorgaben an die aktuelle Politik anlegt, sollte man meinen, gerade laufe tatsächlich vieles richtig:

  • Von der Erhöhung des Mindestlohns im vergangenen Oktober sollen gerade diejenigen profitieren, die ihre Arbeit bislang weit unter Wert verkaufen mussten,
  • die Einführung des Bürgergelds dagegen hilft denjenigen, die sich nun um Weiterbildung und nicht zuerst um den nächsten schlecht bezahlten Job kümmern und
  • von dem berühmten „Doppelwumms“ profitieren gerade diejenigen, die ohne diese Unterstützung in diesem Winter in kalten Wohnungen hätten ausharren müssen.

Richtig ist aber auch: mit all diesen Maßnahmen wurde die Ungleichheit in diesem Land – also die Spaltung zwischen oben und unten – um keinen Millimeter verringert: bereits vor dessen Erhöhung wurde nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung e.V. (DIW) beinahe 2,4 Mio. Beschäftigten in Deutschland der Mindestlohn vorenthalten. Es steht zu vermuten, dass diese Zahl durch die deutliche Erhöhung noch zunehmen wird. Zur Einführung des Bürgergelds bemängeln Sozialverbände, 50 Euro mehr reichten nicht aus, um den betroffenen Menschen auch wirklich einen Anteil am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Und nicht zuletzt: sowohl die Unterstützung während der Corona-Pandemie als auch die Milliarden zur Abfederung der Energiekrise kamen im Kern gerade nicht den Mieterinnen und Mietern, sondern den großen Immobilienkonzernen als Vermieter sowie den Energieversorgern zugute.

Damit wurde also nicht etwa die Spaltung gemildert, sondern im Gegenteil sogar verschärft. Dies gilt im Übrigen auch für die Spaltung am Arbeitsmarkt. Auch dort verfestigt sich die Anzahl der prekär Beschäftigten immer weiter – schon seit etwa 20 Jahren liegt der Anteil der atypisch Beschäftigten weitgehend stabil bei etwa 20 Prozent.

Wenn das Band des Zusammenhalts reißt

Julia Friedrichs beschreibt das zu Beginn ihres Buchs „Working Class“ sehr anschaulich mit dem Bild einer reißenden Achillessehne, also dem Band, das „Oben“ und „Unten“ zusammenhält. Im Unterschied zur Achillessehne, dessen schnalzender Knall jedem, der das einmal erlebt hat, auf ewig im Gedächtnis bleibt, reiße das gesellschaftliche Band allerdings lautlos. Alles nicht so schlimm?

Ebenso lautlos hat sich die prekäre Beschäftigung auf unserem Arbeitsmarkt etabliert: da wird die geringfügige oder die befristete Beschäftigung als Brücke in den ersten Arbeitsmarkt gepriesen oder die Beschäftigung in Teilzeit als durchaus im Sinn der betroffenen Frauen verkauft. Zudem wird Leiharbeit als Zeitarbeit privilegiert, die nur zur Abdeckung der Auftragsspitzen eingesetzt werde.

Die Realität sieht dagegen anders aus:

  • Eine befristete Beschäftigung nimmt den Betroffenen die Planungssicherheit für die Zukunft. Gerade junge Menschen überlegen es sich daher gut, ob sie ein Haus bauen oder ein Kind in die Welt setzen können.
  • Von einer geringfügigen Beschäftigung profitiert nur auf den ersten Blick der – oder in der Regel ist es die – Beschäftigte, weil sie Brutto für Netto erhält, wirklich aber geht sie der kompletten sozialen Absicherung verlustig, weil eben keine Anwartschaften in der Rentenversicherung erworben werden.
  • Dass zudem die Leiharbeit schon lange nicht mehr allein für die Abdeckung von Leistungsspitzen da ist, davon können zahlreiche Betroffene, die im Übrigen in der Pandemie zuallererst ihren Arbeitsplatz verloren haben, ein Lied singen.

Was uns Corona (auch) gelehrt hat

Gerade mit Hinblick auf die Corona-Pandemie kann festgestellt werden, dass gerade prekär Beschäftigte systemrelevant waren. Ob sie Kinder erziehen, Alte betreuen oder Kranke pflegen, ob sie die Gesellschaft mit dem (Über-)Lebensnotwendigem im Lebensmitteleinzelhandel oder über Lieferdienste versorgen, sie waren es, die einerseits besonders gefährdet waren, andererseits aber erstklassige Arbeit geleistet haben. Folgerichtig wurden sie auch von den Balkonen bis in den Bundestag hinein beklatscht. Es wäre daher nun dringend an der Zeit, sich um die finanzielle wie soziale Absicherung dieser Menschen zu kümmern.

 

 

Die Kehrseite von „New Work“

Dazu sollte bedacht werden, dass viele dieser Menschen die Voraussetzungen für die viel gelobte „New Work“ schaffen, die augenblicklich in aller Munde ist. Um die optimale Flexibilität sicherzustellen, braucht es andere Menschen, die den Rücken freihalten: Von der Nanny für die Kleinen bis zur live-In für die Alten, vom Lieferanten, der den Kühlschrank auffüllt, bis zur Putzkraft, die das Haus in Ordnung hält.

Wahrscheinlich braucht eine neue Mittelschicht, die sich laut Reckwitz dem „Streben nach Selbstentfaltung“ verschrieben hat, diese modernen Bediensteten, aber es sollte in jedem Fall sichergestellt werden, dass diese dabei nicht auf der Strecke bleiben. So hat beispielsweise – wie Amelia Horgan in ihrem Buch „Lost in Work“ beschreibt – die Philosophin Arianne Shahvisi argumentiert, die Reinigungskraft sollte denselben Stundenlohn erhalten, den ihre Auftragsgeberinnen und Auftragsgeber in dieser Zeit bekommen würde. Ich muss zugeben, dass das selbst mir zu weit ginge, aber als Gedankenexperiment klingt das ja erst einmal ganz interessant.   

Was jetzt ansteht

Abgesicherte Arbeitsplätze, wie wir sie uns vorstellen, müssen angemessen bezahlt und sozial abgesichert sein. Sie müssen mitbestimmt und unbefristet sein. In unseren Augen gehören die Leiharbeit wie eine geringfügige Beschäftigung, die im Zusammenspiel mit dem Ehegattensplitting zur Beschäftigungsfalle für Frauen wird, abgeschafft. Allein auf diesem Weg ist es zu schaffen, aus prekärer Beschäftigung eine menschenwürdige Arbeit zu machen. Wenn diese Rahmenbedingungen eingehalten werden, herrscht Fairness auf dem Arbeitsmarkt – Verbraucherinnen und Verbraucher müssen nicht mehr aufwendig recherchieren, ob die Arbeitsbedingungen akzeptabel sind, sondern es setzt sich tatsächlich Qualität durch.


Verfasst von:

Peter Ziegler

Vorsitzender der LAG Bayern der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung (KAB)